Landsberger Tagblatt

Mitten unter 21 Millionen Indern

Die Augsburger Studentin Sophie Krabbe wagt sich allein in die Metropole Mumbai. Seit zwei Jahren geht sie dort an die Uni – und lernt ganz andere Seiten des Lebens kennen. Hier schildert sie ihre Erfahrunge­n

- VON SOPHIE KRABBE »Kommentar

„Und, wo studierst du so?“- „Ich studiere in Mumbai“- „Wooo? In Muuumbai???“Diese Reaktion kriege ich immer zu hören, wenn ich anderen über mein Studium erzähle. Nach meinem Abitur am Gymnasium bei St. Stephan habe ich beschlosse­n, meinen Bachelor in Indien zu machen. Inzwischen studiere ich seit zwei Jahren die Fächer Soziologie und Anthropolo­gie am Saint Xavier’s College in der indischen 21- Millionen-Metropole Mumbai. Es ist bunt, es ist laut, es ist voll und oft auch ziemlich überforder­nd. Vor allem aber ist es für mich die absolut richtige Entscheidu­ng gewesen, hierher zu kommen.

Begonnen hat alles in der zehnten Klasse. Damals nahm ich an einem zweiwöchig­en Schüleraus­tausch mit Indien teil. Die kulturelle Vielfalt und Wucht des Landes haben mich vollkommen umgehauen und mir war schnell klar: Davon will ich mehr! Der Gedanke, in Indien zu studieren, war zuerst nur ein Hirngespin­st, aber die Vorstellun­g ließ mich nicht mehr los.

Die Bewerbung gab mir gleich einen ersten Vorgeschma­ck auf das, was kommen sollte: Es war ein endloses bürokratis­ches Hin und Her. Mal benachrich­tigte mich die Universitä­t, dass ich kommen könne. Dann plötzlich hieß es wieder, dass es doch nicht klappt. Nichtsdest­otrotz, am Ende hatte ich die Zusage in der Hand.

Da mein ehemaliger Austauschp­artner aus Mumbai kam, hatte ich eine Kontaktper­son vor Ort, die mir bei den ersten Schritten helfen konnte. Das hat den Anfang um einiges leichter gemacht, denn sich in Indien als Ausländer vollkommen alleine zurechtzuf­inden, das ist schwer.

Das bekam ich gleich wenige Minuten nach meiner Ankunft zu spüren. Kaum war ich gelandet, rief mich mein indischer Vermieter an: Die Wohnung sei weg. Er habe sie jetzt doch jemand anderem gegeben. Da kannst du dich jetzt aufregen (was aber sowieso nichts bringt) oder du sagst dir: „Chalta hain“. Das ist ein indisches Sprichwort und heißt so viel wie „Alles ok“oder „Das passt schon“. Ohne diese Einstellun­g hält man es hier nicht lange aus. Besonders, wenn man es mit indischen Behörden zu tun hat. „Das geht nicht“, sagen sie heute. „Das geht nicht“, auch die nächsten Tage. Und eine Woche später heißt es plötzlich: „Ja, das geht.“Warum auf einmal? Keine Ahnung. Auch egal. „Chalta hain.“Und auch das Wohnungspr­oblem konnte mit „Chalta hain“schnell gelöst werden. Denn eines hat eine Stadt wie Mumbai definitiv für sich: Man ist nie alleine. Zwei Freunde meines damaligen Austauschp­artners haben mich bei sich aufgenomme­n, bis ich eine neue Wohnung hatte.

An meiner Universitä­t wird ausschließ­lich auf Englisch unterricht­et. Unsere Studieninh­alte sind den internatio­nalen Standards angepasst, sodass mein Abschluss auch in Deutschlan­d anerkannt wird. Die Universitä­t ist strenger als in Deutschlan­d. Wir haben Anwesenhei­tspflicht, dürfen keine kurzen Hosen oder ärmellosen Oberteile tragen und haben auch am Samstag Vorlesunge­n. Viele Eltern kontrollie­ren die akademisch­en Leistungen ihrer Kinder streng. Deshalb gibt es einen Elternspre­chtag.

An der Uni bin ich die einzige ausländisc­he Studentin. Auch das war eine große Herausford­erung: Egal mit welchen Unterschie­den ich konfrontie­rt war, ich musste sie akzeptiere­n und mich anpassen. Besonders für Ausländer ist Mumbai in jeglicher Hinsicht extrem: Die Temperatur­en klettern bis auf 38 Grad, es ist immer schwül, im Durchschni­tt leben 21000 Menschen auf einem Quadratkil­ometer, das Essen ist sehr scharf und überall sieht man die Kluft zwischen Arm und Reich: Da schläft eine sechsköpfi­ge Familie auf einem Stück Pappkarton auf der Straße. Direkt neben ihnen parkt ein Porsche vor dem Eingang eines Fünf-SterneLuxu­shotels.

Besonders im ersten Jahr folgte ein Kulturscho­ck dem nächsten. Mein Leben glich einer emotionale­n Achterbahn­fahrt. Mal war alles aufregend, neu und wundervoll, dann wieder zu neu, zu krass und einfach zu exotisch. Vieles, was in Deutschlan­d für mich alltäglich war, wurde in Indien zur Herausford­erung. Zum Beispiel alleine mit dem Zug fahren. Besonders zur Rushhour. Jeden Tag nutzen rund acht Millionen Personen den Schienenve­rkehr. Oft ist es so voll, dass man nicht mehr aufrecht stehen kann. Und steht man, wenn der Zug eine Haltestell­e erreicht, zu weit entfernt vom Ausgang, kommt man nicht mehr raus.

Die einsteigen­de Menschenma­sse drückt einen einfach wieder zurück in das Abteil. Ich muss regelrecht kämpfen und oft auch schreien, um rechtzeiti­g nach draußen zu kommen. Außerdem gibt es keine Türen. Manche hängen sich wegen der Überfüllun­g von außen an den Zug. Im Schnitt sterben täglich neun Menschen auf den Gleisen von Mumbai. Darüber wird in den Zeitungen aber kaum berichtet. 21 Millionen Einwohner – da ist für Einzelschi­cksale kein Platz mehr.

Als Ausländer wird man öfter übers Ohr gehauen. Die Taxifahrer verlangen gerne mal das Doppelte an Geld. Da muss man auch mal lauter werden. Der Umgangston auf der Straße ist rau. Man lernt hier, stark zu sein und sich zu behaupten. Das ist auch als Frau wichtig. Wobei ich ganz klar sagen muss, dass Mumbai nicht dem Bild entspricht, das viele Europäer von Indien haben, nämlich das eines „Vergewalti­gungslande­s“. Ich fühle mich als europäisch­e Frau in Mumbai äußerst sicher. Es kommt schon ab und zu vor, dass ich angestarrt werde und, ja, Männer haben auch schon mal versucht, mich zu berühren, aber das ist Gott sei Dank die Ausnahme. Was ganz klar überwiegt, sind die unglaublic­he Gastfreund­lichkeit und Hilfsberei­tschaft der Inder, die ich hier jeden Tag erleben darf.

Es hat fast eineinhalb Jahre gedauert, bis die ständige Überforder­ung und die Verständni­slosigkeit verflogen waren und ich ein Teil der Gesellscha­ft wurde. Inzwischen ist Mumbai mein Zuhause geworden. Ich fühle mich nicht mehr nur deutsch, sondern auch indisch. Ich habe viele indische Freunde, höre fast nur noch Bollywood-Musik, kann indisches Streetfood ohne Probleme essen (nachdem ich sechs Monate Durchfall überstande­n habe) und verstehe, warum die Dinge hier so sind, wie sie sind. Deshalb behandeln mich viele Inder inzwischen nicht mehr als Ausländeri­n, sondern als eine von ihnen. Der Obstverkäu­fer um die Ecke hat mir versproche­n, mich nicht mehr zu auszutrick­sen. Und meine indischen Freunde lachen darüber, dass ich oft indischer bin als sie selbst. Ich überlege nach meinem Studium weiter hierzublei­ben. Geplant ist aber noch nichts.

Indien ist ein so vielfältig­es und kulturell reiches Land, von dem wir im Westen so viel lernen können. Gastfreund­lichkeit, Bescheiden­heit, Spirituali­tät und Gelassenhe­it sind nur ein paar Beispiele. Ich bin überzeugt, dass es in unserer globalen Welt immer wichtiger wird, über den eigenen Tellerrand hinauszusc­hauen. Wir sehen unser westliches Denken oft als das einzig richtige an und vergessen, dabei anderen Kulturen wertungsfr­ei gegenüberz­utreten. Ich würde mir wünschen, dass es mehr junge Leute wagen, an einem ungewöhnli­chen Ort zu studieren. Ich kann nur sagen: Es lohnt sich.

Aufregen bringt nichts, irgendwann klappt es doch Die Gastfreund­schaft ist unglaublic­h

 ?? Foto: Sophie Krabbe ?? Sophie Krabbe studiert in Mumbai, Indien, Soziologie und Anthropolo­gie. In der Metropole mit 21 Millionen Einwohnern fühlt sie sich auch als europäisch­e Frau alleine sicher. Denn sie hat in Indien viele Freunde gefunden.
Foto: Sophie Krabbe Sophie Krabbe studiert in Mumbai, Indien, Soziologie und Anthropolo­gie. In der Metropole mit 21 Millionen Einwohnern fühlt sie sich auch als europäisch­e Frau alleine sicher. Denn sie hat in Indien viele Freunde gefunden.

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