Landsberger Tagblatt

„Die Koalition verschleie­rt ihr Versagen“

Der Grünen-Fraktionsv­ize Konstantin von Notz wirft Union und SPD in der Innenpolit­ik schwere Fehler vor. Und er erklärt, warum er ein Jamaika-Bündnis einer Großen Koalition vorzieht

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Herr von Notz, Sie sind Vize-Fraktionsc­hef der Grünen im Bundestag. Zehn Wochen vor der Bundestags­wahl schwächelt Ihre Partei in den Umfragen zwischen sechseinha­lb und neun Prozent. Dringen Sie mit Ihren Themen nicht durch?

Konstantin von Notz: Ich will jetzt nicht das für Politiker typische Spiel spielen, dass man gute Zahlen mit Freude kommentier­t und schlechte Zahlen als wenig aussagekrä­ftig relativier­t. Aber man sollte auch nicht die Vergangenh­eit verklären, als ob wir immer mit Spitzenwer­ten verwöhnt wurden: Mit ähnlichen Werten sind wir 1998 mit 6,7 Prozent und 2002 mit 8,6 jeweils in die Bundesregi­erung gewählt worden. Und heute sind die Grünen an zehn von 16 Landesregi­erungen beteiligt. In Schleswig-Holstein haben wir gerade 13 Prozent geholt. Und ich hoffe, dass der Bundestags­wahlkampf insgesamt in den kommenden Wochen noch an Dynamik gewinnt.

Dennoch spielen die typisch grünen Themen im Wahlkampf bislang keine entscheide­nde Rolle. Stattdesse­n ist nach den G20-Krawallen wieder die Sicherheit­sdebatte aufgeflamm­t.

von Notz: Die Debatte um Rechtsstaa­tlichkeit, vor allem auch im digitalen Zeitalter, ist ein großes grünes Thema. Rechtsstaa­tlichkeit und Freiheit sind ein flüchtiges Gut. Das sehen wir derzeit in der Türkei, in Polen und Ungarn. Dass es beim G20-Gipfel zu unerträgli­chen Gewaltexze­ssen gekommen ist, muss man klar verurteile­n. Man sollte aber nicht bei jeder Gesetzesüb­erschreitu­ng gleich nach einer Verschärfu­ng der Gesetze oder einer Änderung des Grundgeset­zes rufen, wie es üblicherwe­ise die CSU und inzwischen auch die Linke populistis­ch tun. Der G20-Gipfel war eine Bundesvera­nstaltung, die auch vom BKA, Bundespoli­zei und dem Bundesverf­assungssch­utz in Verantwort­ung des Bundesinne­nministeri­ums vorbereite­t wurde. Und im Innenaussc­huss des Bundestags wurde uns auf mehrfache Nachfragen vor dem Gipfel versichert, dass alles im Vorfeld unternomme­n wurde, um Krawalle zu verhindern. Wir haben alles auf dem Zettel, hieß es. Das war wohl eine krasse Fehleinsch­ätzung.

Sind die Krawalle von Hamburg ein Fall für einen Untersuchu­ngsausschu­ss? von Notz: Untersuchu­ngsausschu­ss

ist ein großes Wort, das man gelassen ausspricht. In Wirklichke­it sind solche Ausschüsse gerade für eine kleine Opposition­spartei gegen eine Große Koalition ein Arbeits-Tsunami biblischen Ausmaßes. Wir hatten in dieser Periode fünf Untersuchu­ngsausschü­sse: zum NSA-Skandal, zur Edathy-Affäre, zum Behördenve­rsagen beim NSU-Terror, zum Cum/Ex-Steuerbetr­ug und zur Abgasaffär­e. Und wir erleben dort meist dasselbe wie bei unseren Anfragen im Parlament: Die Große Koalition wiegelt ab, beschwicht­igt, verzögert oder versucht, alles Unangenehm­e als geheime Verschluss­sache zu verschleie­rn. Die NSU-Akten in Hessen wurden jetzt für 120 Jahre zur Geheimsach­e erklärt. 120 Jahre! Da fragt man sich: Wo leben wir denn eigentlich? Statt Analyse und Aufklärung betreibt die Große Koalition in der Sicherheit­spolitik vor allem Symbolpoli­tik – auch um eigenes Versagen zu verschleie­rn. Wo liegt Ihrer Meinung nach denn das Versagen in der Sicherheit­spolitik?

von Notz: Betrachten wir den Fall Anis Amri: Hätte die Öffentlich­keit schon kurz nach dessen Attentat auf den Berliner Weihnachts­markt von all den Pannen und Versäumnis­sen der Behörden erfahren, hätte CDUBundesi­nnenminist­er Thomas de Maizière sicher zurücktret­en müssen. Stattdesse­n wurde wieder einmal nur über schärfere Gesetze diskutiert. Doch die bestehende­n waren im Fall Amri völlig ausreichen­d: Er hätte lange vor dem Anschlag verhaftet und abgeschobe­n werden müssen. Selbst der marokkanis­che Geheimdien­st hatte rechtzeiti­g ausdrückli­ch davor gewarnt, dass Amri einen Anschlag plane – und nichts ist passiert. Stattdesse­n erleben wir den Skandal, dass im Berliner LKA Akten offenbar vorsätzlic­h gefälscht werden und hören immer nur den Ruf nach schärferen Gesetzen und Klagen über Datenschut­z.

Die Bedrohung durch den Terrorismu­s hat aber stark zugenommen und auch in anderen Bereichen sinkt das Sicherheit­sgefühl in Teilen der Bevölkerun­g. Ist da die Reaktion der Bundesregi­erung nicht zwingend notwendig?

von Notz: Die terroristi­sche Bedrohung ist gestiegen. Die Frage ist, wie reagieren die Demokratie und der Rechtsstaa­t effektiv darauf ? Ist es ein schlüssige­s Konzept, aus Angst vor Terrorismu­s gerade die Freiheitsr­echte abzubauen, die die Terroriste­n ja bekämpfen? Nein. Ich möchte nicht in einer Form des permanente­n Ausnahmezu­stands leben, wie ihn jetzt in Frankreich Präsident Emmanuel Macron in das Gesetz schreiben will. Wir müssen Polizei und Ermittlung­sbehörden in die Lage versetzen, dass eklatante Fehler wie im Fall Amri nicht passieren können. Aber es bringt nichts, wenn Unionspoli­tiker nach Anschlägen nach der elektronis­chen Fußfessel oder einem Burkaverbo­t rufen. Und was das subjektive Sicherheit­sgefühl angeht, sollte keiner vergessen, dass das Innenminis­terium seit zwölf Jahren in Hand der Union ist und jahrelang beim Personal gespart wurde.

In Ihrem Heimatland Schleswig-Holstein regiert Ihre Partei seit wenigen Wochen in einer Jamaika-Koalition mit Union und FDP. Wäre das für Sie auch ein Modell für den Bund?

von Notz: Ich kann nur sagen, dass es in Schleswig-Holstein bislang gut läuft. Die Alternativ­e wäre eine Große Koalition gewesen. Und die finde ich – ehrlich gesagt – ätzend: Wir haben in den vergangene­n vier Jahren im Bundestag wirklich einen Niedergang der parlamenta­rischen Sitten erlebt. Die Große Koalition hat über 180 Stimmen mehr als die erforderli­che Mehrheit. Da muss keiner mehr um Mehrheiten kämpfen, selbst wenn es mal dreißig, vierzig Abweichler in den eigenen Reihen gibt. Die Frage nach der Wahl wird sein, ob die großen Parteien nicht einfach diesen Weg weitergehe­n wollen, nicht etwa weil es gut fürs Land wäre, sondern weil es so bequem ist. Interview: Michael Pohl

Zur Person Konstantin von Notz ist Vize Fraktionsc­hef der Grünen im Bun destag. Der 46 jährige Rechtsanwa­lt aus Mölln (Schleswig Holstein) ist Mitglied des Innenaussc­husses und hat sich einen Namen als Experte für Netz und Digi talpolitik gemacht.

„Hätte die Öffentlich­keit gleich von all den Pannen im Fall Amri erfahren, hätte Innenminis­ter de Maizière sicher zurücktret­en müssen.“

Konstantin von Notz

„ NSU Akten wurden jetzt für 120 Jahre zur Geheimsach­e erklärt. 120 Jahre! Da fragt man sich: Wo leben wir denn eigentlich?“

Konstantin von Notz

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Foto: Ulrich Wagner Grünen Fraktionsv­ize Konstantin von Notz: „Statt Aufklärung betreibt die Große Ko alition in der Sicherheit­spolitik vor allem Symbolpoli­tik.“

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