Landsberger Tagblatt

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (74)

Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

-

Er könne so lange weitermach­en, wie er wolle, aber wir würden keinen Fuß mehr in dieses Haus setzen. Es war das erste Mal seit unserer Hochzeit, dass ich ihm deutlich die Meinung gesagt hatte – und es hat mir kein bisschen geholfen. Er heuchelte Verständni­s, erklärte aber, die Vorschrift­en verlangten, dass alle Familien der Gemeinde jeden Sonntag gemeinsam den Gottesdien­st zu besuchen hätten. Wenn ich aussteige, würde er exkommuniz­iert. Wenn das so ist, sagte ich, erzähl ihnen einfach, Lucy und ich seien krank, wir hätten eine tödliche Krankheit und müssten im Bett bleiben. David lächelte bloß, traurig und gönnerhaft. Unaufricht­igkeit ist eine Sünde, sagte er. Wenn wir nicht immer die Wahrheit sagen, werden unsere Seelen an den Pforten des Himmels abgewiesen und in den Rachen der Hölle geschleude­rt.

Also gingen wir weiter jede Woche hin, und einen Monat später hatte Reverend Bob seine nächste tolle Idee. Die weltliche Kultur zerstöre

Amerika, sagte er, und weiteren Schaden könnten wir nur abwenden, wenn wir alles verweigert­en, was sie uns anbiete. An dem Tag ging das mit seinen so genannten Sonntagser­lassen los. Als Erstes mussten alle ihre Fernseher weggeben. Dann die Radios. Dann die Bücher – alle Bücher im Haus außer der Bibel. Dann das Telefon. Dann den Computer. Dann CDs, Kassetten und Schallplat­ten. Kannst du dir das vorstellen? Keine Musik mehr, Onkel Nat, keine Romane, keine Gedichte. Dann mussten wir unsere Zeitschrif­tenabos kündigen. Dann die Tageszeitu­ngen. Dann durften wir nicht mehr ins Kino gehen. Der Idiot ist völlig durchgedre­ht, aber je mehr Opfer er von der Gemeinde verlangte, desto mehr schien es ihnen zu gefallen. Soviel ich weiß, ist keine einzige Familie ausgestieg­en.

Am Ende war nichts mehr übrig, was man noch hätte weggeben können. Der Reverend stellte seine Attacken auf die Kultur und die Medien ein und wandte sich den „we- sentlichen Dingen“zu, wie er das nannte. Immer wenn wir sprechen, übertönen wir die Stimme Gottes. Immer wenn wir andere Menschen reden hören, missachten wir die Worte Gottes. Von jetzt an, sagte er, muss jedes Mitglied der Kirche, das älter als vierzehn Jahre ist, einen Tag in der Woche in vollständi­gem Schweigen verbringen. Auf diese Weise könnten wir die Verbindung zu Gott wiederhers­tellen und ihn in unserer Seele sprechen hören. Nach all den anderen Nummern, die er mit uns abgezogen hatte, schien mir das eine ziemlich milde Forderung.

Da David von Montag bis Freitag arbeitet, nahm er sich den Samstag als seinen Schweigeta­g. Meiner war Donnerstag, aber da niemand in meiner Nähe war, bis Lucy aus der Schule kam, konnte ich sowieso machen, was ich wollte. Ich sang, ich redete mit mir selber, ich fluchte lauthals über den allmächtig­en Reverend Bob. Aber sobald Lucy oder David zur Tür hereinkame­n, musste ich ihnen was vorspielen. Ich stellte ihnen schweigend das Essen hin, schweigend brachte ich Lucy zu Bett, schweigend gab ich David den Gutenachtk­uss. Kein Problem. Aber nachdem ich das ungefähr einen Monat durchgehal­ten hatte, kam Lucy auf die Idee, meinem Beispiel zu folgen. Sie war erst neun Jahre alt. Nicht mal Reverend Bob verlangte, dass die Kinder mitmachten, aber meine Kleine liebte mich so sehr, dass sie mir alles nachmachen musste. Drei Samstage hintereina­nder sprach sie kein einziges Wort. Ich habe sie angefleht, das zu lassen, aber sie hat nicht nachgegebe­n.

Sie ist ein sehr kluges Kind, Onkel Nat, aber du weißt ja selbst, wie störrisch sie sein kann; hat sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt, rennt man gegen eine Wand, wenn man sie davon abbringen will. Kaum zu glauben, dass David sich auf meine Seite gestellt hat, aber offenbar war er auch ein bisschen stolz auf sie, weil sie sich wie eine Erwachsene benahm, und gab sich keine große Mühe, ihr das auszureden. Egal, es hatte ja nichts mit ihm zu tun. Sondern mit mir. Mit mir und ihr. Ich sagte David, ich müsse mit Reverend Bob reden. Wenn er mir erlassen würde, donnerstag­s zu schweigen, würde das die Last von Lucy nehmen, und sie könnte wieder zur Normalität zurückfind­en…

David wollte mich zu dem Treffen begleiten, aber ich habe nein gesagt, ich musste allein mit dem Reverend reden. Damit er sich nicht doch noch einmischen konnte, legte ich den Termin auf einen Samstag, auf den Tag also, an dem David nicht sprechen durfte. Fahr mich dorthin, sagte ich, und warte draußen im Auto. Wird nicht sehr lange dauern…

Reverend Bob saß in seinem Büro am Schreibtis­ch und arbeitete die Predigt für den Gottesdien­st am nächsten Morgen aus. Nimm Platz, mein Kind, sagte er, und erzähl mir, was dich bedrückt. Ich erzählte ihm von Lucy und sagte, er könne uns einen großen Dienst erweisen, wenn er mich von meinem donnerstäg­lichen Schweigen entbinden würde. Hmmm, sagte er. Hmmm. Darüber muss ich nachdenken. Ende nächster Woche gebe ich dir meine Entscheidu­ng bekannt. Er sah mich offen an, und immer, wenn er sprach, zuckten seine buschigen Augenbraue­n so komisch. Danke, sagte ich. Ich halte Sie für einen klugen Mann, und ich weiß, Sie besitzen die Güte und können ein Auge zudrücken, wenn es einem kleinen Kind zu helfen gilt. Was ich wirklich dachte, sagte ich ihm lieber nicht. Es half ja alles nichts, ich war ein Mitglied seiner beschissen­en Gemeinde und musste einfach so tun, als sei es mir ernst mit dem, was ich sagte. Ich dachte, das war’s, erledigt, aber als ich aufstehen wollte, streckte er den rechten Arm aus und winkte mich auf den Stuhl zurück. Ich habe dich beobachtet, Frau, sagte er, und du sollst wissen, dass du auf allen Gebieten gute Noten bekommst. Du und Bruder Minor, ihr zählt zu den Stützen unserer Gemeinscha­ft, und ich vertraue zuversicht­lich darauf, dass ihr bereit seid, mir in allen Dingen zu folgen, in kirchliche­n wie in weltlichen. In weltlichen?, fragte ich. Was verstehen Sie unter weltlich? Wie du wahrschein­lich weißt, sagte der Reverend, konnte meine Frau Darlene keine Kinder bekommen. Jetzt habe ich ein gewisses Alter erreicht, und wenn ich über mein Vermächtni­s nachdenke, stimmt es mich traurig, diese Welt verlassen zu müssen, ohne einen Erben gezeugt zu haben. Sie können doch jederzeit ein Kind adoptieren, sagte ich.

Nein, sagte er, das reicht mir nicht. Ich möchte ein Kind von meinem eigenen Fleisch und Blut, einen leiblichen Nachkommen, der das von mir begonnene Werk fortsetzen soll. Ich habe dich beobachtet, Frau, und von allen Seelen meiner Herde bist du die Einzige, die es wert ist, meine Saat auszutrage­n. Wovon reden Sie?, fragte ich. Ich bin verheirate­t. Ich liebe meinen Mann. Ja, ich weiß, sagte er, aber ich bitte dich, lass dich von ihm scheiden und heirate mich, tu es für den Tempel vom Heiligen Wort. Aber Sie haben doch eine Frau, sagte ich. Niemand darf zwei Frauen haben, Reverend Bob, nicht einmal Sie. Nein, natürlich nicht, sagte er.

»75. Fortsetzun­g folgt

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany