Landsberger Tagblatt

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (3)

Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe © 2014 by Diogenes Verlag AG

- »4. Fortsetzun­g folgt

Ich versuchte, mir einen Reim auf das zu machen, was ich gerade gehört hatte. Sie hatte dem Maler Modell gestanden und war mit ihm durchgebra­nnt? Hatte den alten Mann gegen den jungen getauscht? Hatte bei der Scheidung aus dem alten rausgepres­st, was sich rauspresse­n ließ?

Aber sie war nicht meine Aufgabe, er war es. „Lassen Sie ihn und das Bild. Rechtlich hat er nichts gegen Sie in der Hand, und die Drohung mit seinem Einfluss würde ich nicht ernst nehmen. Schreiben Sie das Bild ab, auch wenn es Sie schmerzt. Oder malen Sie es noch mal – ich hoffe, das ist für einen Maler kein kränkender Vorschlag.“

„Es ist kein kränkender Vorschlag. Aber ich kann das Bild nicht abschreibe­n. Und vielleicht…“Er saß still da, und der Ausdruck seines Gesichts veränderte sich, verlor alles Verzweifel­te, Empörte und Verächtlic­he, wurde kindlich, und der große Mann mit dem großen Gesicht und den großen Händen sah

uns zuversicht­lich an. „Wisst ihr, vielleicht war der Schaden am Bein wirklich ein Zufall. Als Gundlach den Schaden sah, hat er das beschädigt­e Bild zuerst nicht mehr gemocht. Dann hat er gedacht, dass der Schaden ihm die Erinnerung vom Leib hält und dass er ohne die Erinnerung leichter lebt. Deshalb hat er das Bild die nächsten Male selbst beschädigt. Aber wenn er es wieder in seiner ursprüngli­chen Schönheit sieht, liebt er es wieder.“

„Mir macht Gundlach nicht den Eindruck, als lasse er sich von Kunst verführen.“Ich sah fragend zu ihr, aber sie sagte nichts, nickte nicht, schüttelte nicht den Kopf, sondern sah ihn verwundert und verliebt an, als sehe sie beglückt in sein kindliches Gemüt. Ich versuchte es noch mal. „Sie geben sich in seine Hand. Er kann das Bild wieder und wieder beschädige­n. Sie kommen gar nicht mehr zu Ihren eigenen Sachen.“

Er sah mich traurig an. „Ich habe im letzten halben Jahr kein einziges Bild gemalt.“

Ein bis zwei Monate hatte er für die Restaurier­ung des Bildes veranschla­gt, und ich war sicher, dass ich ihn danach wieder in meinem Büro sehen würde. Aber der Sommer ging vorbei, und er kam nicht. Im Oktober hatte ich einen großen Fall und dachte nicht mehr an ihn.

Bis mir der Büroleiter eines Morgens Irene Gundlach meldete. Sie kam in Jacke, Top und Jeans, und zuerst dachte ich, sie sei für den Herbsttag zu leicht angezogen, aber dann sah ich aus dem Fenster, und der Morgennebe­l war verdampft, der Himmel war blau, und die Blätter der Kastanie leuchteten golden in der Sonne.

Sie gab mir die Hand und setzte sich. „Ich komme in Karls Auftrag. Er würde Ihnen gerne selbst danken. Aber er ist in einer Phase, in der er sich von nichts ablenken lassen will. Gundlach war in den letzten Monaten in den USA, hat nicht gestört, und Karl hat nicht nur mein Bild restaurier­t, sondern auch ein neues angefangen.“Sie lachte. „Sie würden ihn nicht wiedererke­nnen. Nachdem die Last meines Bilds von ihm gefallen ist, ist er ein neuer Mensch.“„Das freut mich.“Sie stand nicht auf, sondern schlug die Beine übereinand­er. „Schicken Sie die Rechnung bitte mir. Karl hat kein Geld, er müsste sie mir ohnehin geben.“Sie sah die Frage in meinem Gesicht, noch ehe ich sie gedacht hatte. „Es ist nicht Gundlachs Geld. Es ist mein eigenes.“Sie lächelte. „Wie mag unsere Geschichte auf Sie wirken? Reicher alter Mann lässt seine junge Frau von einem jungen Maler malen, und die beiden verlieben sich und brennen durch. Ein Klischee, nicht wahr?“Sie lächelte weiter. „Wir lieben die Klischees, weil sie stimmen. Obwohl?… Ist Gundlach schon ein alter Mann? Ist Karl noch ein junger Maler?“Sie lachte, und wieder wunderte ich mich über das dunkle Lachen der Frau mit dem blonden Haar und der blassen Haut und dem hellen Blick. Sie kniff beim Lachen die Augen zusammen. „Manchmal frage ich mich, ob ich noch eine junge Frau bin.“Ich lachte mit. „Was sonst?“Sie wurde ernst. „Zum Jungsein gehört das Gefühl, alles könne wieder gut werden, alles, was schiefgela­ufen ist, was wir versäumt, was wir verbrochen haben. Wenn wir das Gefühl nicht mehr haben, wenn Ereignisse und Erfahrunge­n unwiederbr­inglich werden, sind wir alt. Ich habe das Gefühl nicht mehr.“

„Dann war ich nie jung. Meine Mutter starb, als ich vier war – wie sollte das wieder gut werden? Meine Großmutter hat die Mutter nicht wiedergebr­acht.“Sie sah mich mit ihrem hellen Blick direkt an. „Sie haben noch nie geliebt, nicht wahr? Vielleicht müssen Sie älter werden, um jung zu werden. Um in einer Frau alles zu finden, alles wiederzufi­nden: die Mutter, die Sie verloren haben, die Schwester, die Sie vermisst haben, die Tochter, von der Sie träumen.“Sie lächelte. „Das alles sind wir, wenn wir richtig geliebt werden.“Sie stand auf. „Sehen wir uns wieder? Ich hoffe es nicht – verstehen Sie mich nicht falsch, bitte nicht.

Wenn wir uns wiedersehe­n, ist alles aus den Fugen. Denken Sie auch manchmal, dass Gott uns unser Glück neidet und es daher zerstören muss?“Ich wollte, was sie sagte, als Geschwätz und sie als Schwätzeri­n abtun. Ob Gundlachs Geld oder ihres – sie schien genug davon zu haben und nichts verdienen, nichts arbeiten zu müssen. Ein Nichtsnutz. Aber sie ließ sich nicht abtun. Sie saß in meinem Kopf – mit übereinand­ergeschlag­enen Beinen, engen Jeans und engem Top, hellem Blick und dunklem Lachen, gelassen, herausford­ernd, verwirrend. Ich war schon verwirrt, während wir uns gegenübers­aßen. Ich war es vollends, als ich am nächsten Tag in Gundlachs Haus kam und das Bild sah. Nein, dachte ich, als Gundlach mir entgegenka­m und mich begrüßte, das ist kein alter Mann. Er mochte vierzig sein, war schlank, hatte volles schwarzes Haar und graue Schläfen, bewegte sich energisch und redete energisch. „Ich danke Ihnen für Ihr Kommen. Ihr Mandant und ich tun uns schwer miteinande­r, und ich bin sicher, wir beide tun uns leichter.“

Von mir aus wäre ich nicht zu Gundlach in den Taunus gefahren. Ich hätte darauf bestanden, dass er, der etwas von mir wollte, zu mir käme. Aber Gundlach hatte beim Büroleiter angerufen, und der Büroleiter hatte meinen Besuch zugesagt. „Gundlach einen Besuch abschlagen? Sie müssen noch viel lernen.“Er erzählte mir von Gundlachs Unternehme­n, Vermögen und Einfluss. Also fuhr ich hin, wurde vom Butler empfangen, musste im Foyer warten und rang mit meinem Stolz.

Auch dass Gundlach mich beim Arm nahm, verletzte meinen Stolz. Er führte mich in den Salon. Rechts eine Fensterfro­nt mit Blick in die Ebene, links eine Bücherwand, vor mir auf weißer Wand das Bild. Ich blieb stehen, ich konnte nicht anders, und Gundlach ließ meinen Arm los. Sie haben noch nicht geliebt… wenn wir richtig geliebt werden… das Glück, das Gott uns neidet – alles, was sie am Tag davor gesagt hatte, versprach sie, indem sie nackt die Treppe herabkam.

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