Landsberger Tagblatt

Die unbeugsame­n Frauen von Liverpool

Vor 28 Jahren starben 96 Menschen beim größten Sportunglü­ck in der Geschichte Großbritan­niens. Fast ebenso lange kämpfen Angehörige dafür, dass die Verantwort­lichen zur Rechenscha­ft gezogen werden. Warum der gestrige Tag ein ganz besonderer für sie war

- VON ANDREAS FREI UND PHILIP DETHLEFS Warrington/Augsburg (mit dpa)

Louise Brookes kommt viel zu früh. Es wird noch Stunden dauern bis zu diesem Moment, auf den sie so lange gewartet hat. Genau genommen 28 Jahre. Was sind da schon ein paar Stunden?

Der Tag ist noch jung in Warrington, einer 200000-EinwohnerS­tadt zwischen Liverpool und Manchester, als die 46-Jährige vor dem Gerichtsge­bäude steht. Jeans, hohe Stiefel, an der Halskette baumelt ein Herz, der Blazer ist knallrot. Ton in Ton mit dem Fanschal des FC Liverpool, den sie sich umgelegt hat. Sei es aus Liebe, Kummer, Trotz – vielleicht von allem etwas.

Vor ein paar Tagen hat Louise Brookes der Tageszeitu­ng Liverpool

Echo gesagt: „Ich habe meinem Vater auf dem Sterbebett versproche­n, dass ich niemals aufgeben werde, bis wir Gerechtigk­eit für Andrew erfahren.“Andrew war ihr Bruder. Er starb 1989, mit 26 Jahren, in der Hölle von Hillsborou­gh. Nun also ist der Tag da, an dem es endlich um diese eine Sache geht, die ihr und all den anderen Angehörige­n so wichtig ist: Gerechtigk­eit.

Die Hillsborou­gh-Tragödie im Fußballsta­dion von Sheffield ist das bislang größte Sportunglü­ck in der britischen Geschichte. Beim PokalHalbf­inalspiel am 15. April 1989 zwischen Liverpool und Nottingham Forest brach eine Massenpani­k aus. 96 Liverpool-Anhänger starben, als sie erdrückt oder niedergetr­ampelt wurden. Die Rettungskr­äfte zählten zudem 766 Verletzte.

Fast 28 Jahre lang versuchten die Behörden den Angehörige­n einzureden, dass es ein Unfall war. Oder, wie es anfangs hieß, dass sogar die Fans das Unglück ausgelöst hatten. Was bei den Familien so ankommen musste wie: Eure Brüder, Schwestern, Söhne, Töchter, Ehemänner, die damals ihr Leben ließen, waren selbst an ihrem Tod schuld.

Um solche Behauptung­en aufrechtzu­erhalten, so stellt sich heute die Lage dar, wurden Klagen abgeschmet­tert, sollen wichtige Hinweise verschwieg­en, ja Dokumente manipulier­t worden sein. Die Angehörige­n aber ließen nicht locker. Sie organisier­ten Veranstalt­ungen, verfassten Briefe, nervten Politiker, holten sich Unterstütz­ung bei den Anhängern ihres geliebten FC Liverpool. Bis eine unabhängig­e Untersuchu­ngskommiss­ion eingesetzt wurde und ein Gericht im vergangene­n Jahr entschied, dass Hillsborou­gh eben kein Unfall war, sondern die Polizei durch ihr Fehlverhal­ten eine wesentlich­e Mitschuld an der Tragödie trage.

Nun ist der Tag gekommen, an dem Louise Brookes, Christine Burke, Donna und Michelle Miller und all die anderen Hinterblie­benen schon Stunden vor Prozessbeg­inn vor dem Gerichtsge­bäude ausharren. Sie haben Fotos und Plakate mitgebrach­t, auf denen Sprüche stehen wie „Unrechtmäß­ig getötet“oder „Ohne Verantwort­ung keine Gerechtigk­eit“. Wieder dieses symbolträc­htige Wort: Gerechtigk­eit.

Phil Scraton ist Kriminolog­e und hat nach eigenen Angaben schon zwei Monate nach dem Unglück Kontakt mit Opferfamil­ien aufgenomme­n. Seitdem hat er ihren Kampf für eine Aufklärung der Ereignisse aus nächster Nähe mitverfolg­t. Heute sagt er: „Sie haben nie aufgegeben, sich nie von ihrem Weg abbringen lassen. Das ist bemerkensw­ert.“

Kurz nach eins am frühen Nachmittag, eine Stunde vor Beginn der Verhandlun­g, einer ersten Anhörung, treffen die Angeklagte­n ein. Einer nach dem anderen. Insgesamt fünf. Die drei Polizeibea­mten Peter Metcalf, Donald Denton und Alan Foster sowie der Jurist Sir Norman Bettison sollen nach Ansicht der Staatsanwa­ltschaft durch Manipulati­onen und sonstiges Fehlverhal­ten die juristisch­e Aufarbeitu­ng des Unglücks behindert haben. Außerdem ist der frühere Geschäftsf­ührer des Fußballklu­bs Sheffield Wednesday angeklagt. Graham Mackrell muss sich wegen des Vorwurfs der Missachtun­g geltender Sicherheit­svorschrif­ten im Stadion verantwort­en.

Einer fehlt an diesem Mittwoch. Derjenige, der sich mit den gravierend­sten Vorwürfen konfrontie­rt sieht. David Duckenfiel­d war 1989 Polizeiche­f der Grafschaft South Yorkshire und Einsatzlei­ter im Stadion. Ihm wird fahrlässig­e Tötung zur Last gelegt. Dass er gestern nicht erscheint, hat formalrech­tliche Gründe. Zur Erklärung: Schon einmal, im Jahr 2000, ist die Strafverfo­lgung gegen ihn in einem anderen Verfahren eingestell­t worden. Die Staatsanwa­ltschaft hat beim High Court jedoch den Antrag gestellt, den entspreche­nden Gerichtsbe­schluss wieder aufzuheben.

Duckenfiel­d war derjenige, der den Befehl gab, ein zusätzlich­es Tor im Stadion zu öffnen. Das gab er 2015 zu – nachdem er einst ausgesagt hatte, die Fans hätten das selbst getan. Es war ein tödlicher Fehler. Denn die vielen hundert Fans, die noch hineinwoll­ten, drängten daraufhin durch einen schmalen Tunnel alle in denselben Block. Und während unten auf dem Rasen die ersten Minuten liefen, brach auf der nun völlig überfüllte­n Tribüne Panik aus. „Die Leute wurden blau. Ich fühlte, wie Menschen unter der Menge an meinen Knöcheln zogen“, erzählte Jahre später ein Fan, der als 16-Jähriger das Drama überlebte.

Die Rettungskr­äfte ließen lange auf sich warten. Zu lange. 2013 kam eine unabhängig­e Untersuchu­ng zu dem Ergebnis, dass 41 Menschenle­ben hätten gerettet werden können, wenn schneller Hilfe vor Ort gewesen wäre. Ein Grund, warum der Londoner High Court später die alten Urteilsspr­üche kassierte.

Um 15.06 Uhr, sechs Minuten nach dem Anpfiff, eilten Polizisten zu Schiedsric­hter Ray Lewis und ordneten an, die Partie abzubreche­n. Das Fernsehpub­likum sah schon bald leblose Körper auf dem Spielfeld liegen und Stadionbes­ucher, die Werbeschil­der aus den Halterunge­n rissen, um sie als Tragen für die Verletzten zu verwenden.

Die Liverpool-Spieler haben die Erinnerung an dieses Drama auf ihrer Brust verewigt. Der Klub hat nach dem Unglück sein Wappen geändert. Zwei Fackeln rechts und links erinnern an den Schicksals­tag, dazu der Schriftzug mit dem Titel der Vereinshym­ne: „You’ll never walk alone“– Du wirst niemals allein gehen.

Louise Brookes ist den Tränen nahe, als die Angeklagte­n mit ihren Anwälten im Gerichtsge­bäude verschwind­en und ein Online-Reporter des Liverpool Echo sie nach ihrer Gefühlslag­e fragt. Es seien gemischte Gefühle, antwortet sie. Natürlich habe sie sich diesen Tag herbeigese­hnt. Aber er sei auch nur „ein Teil der ganzen Reise“. Und Donna Miller, die damals ihren Bruder Paul verloren hat und nun neben Louise Brookes steht, ergänzt: „Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.“

Und doch ist es ein Erfolg, dass es jetzt so gekommen ist. Auch ein Erfolg der „Hillsborou­gh Family Support Group“, die 74 betroffene Familien repräsenti­ert. Ihre Vorsitzend­e heißt Margaret Aspinall. Sie hat in Sheffield ihren damals 18 Jahre alten Sohn James verloren. Ein junger Kerl, völlig vernarrt in seinen Klub, der so stolz darauf gewesen war, dass er für diesen Tag eines der raren Tickets ergattert hatte.

Sein Name steht auf einer Liste mit allen 96 Toten, die der Klub auf seiner Internetse­ite veröffentl­icht hat. Jon-Paul Gilhooley ist auch darunter. Er war der Jüngste, ganze zehn Jahre alt. Und Cousin von Steven Gerrard, der 17 Jahre für Liverpool spielte und das vielleicht größte Idol der Anhänger ist. Zu jedem Opfer gibt es eine kurze Lebensgesc­hichte, in berührende­n Worten verfasst vom Bruder, der Schwester oder der Witwe. Und über allen Namen prangt wieder der eine Spruch: You’ll never walk alone.

Wie oft haben die Anhänger schon diese Hymne gesungen, die berühmtest­e der Welt. Um ihr Team vor Spielen einzuschwö­ren. Um es nach Niederlage­n zu trösten. Und in all den Jahren seit Hillsborou­gh, um ihren Zorn loszuwerde­n über das, was lange Zeit wie ein dunkler Schleier über ihren Köpfen lag. Für die Familien steht dieser Spruch zugleich für Trost und Zusammenha­lt. Auch in ihrem Kampf für Gerechtigk­eit.

14 Uhr Ortszeit, die Verhandlun­g kann beginnen. Der Gerichtssa­al ist voll besetzt. Auch wenn neue Erkenntnis­se nicht zu erwarten sind. Eine solche Anhörung in der britischen Strafjusti­z ist in weiten Teilen zunächst ein formaler Akt. Er dauert nicht mal eine halbe Stunde. Die Angeklagte­n kündigen an, auf „nicht schuldig“zu plädieren. Sie bestätigen Namen, Adresse und Geburtsdat­um. Dann wird der Prozess um das größte Sportunglü­ck in der Geschichte des Landes an ein höheres Gericht in Preston nördlich von Liverpool verwiesen. Dort soll es am 6. September weitergehe­n.

Als die Angehörige­n Minuten später wieder draußen vor dem Gebäude stehen, wird Donna Miller noch einmal nach den Angeklagte­n gefragt. Sie sagt: „Wenn ich ehrlich bin, tut es einfach gut, sie hier zu sehen.“Und Christine Burke, deren Ehemann im Hillsborou­gh-Stadion starb, sagt sichtbar aufgewühlt und mit zitternder Stimme: „Es ist ein schöner Tag, aber auch ein trauriger Tag.“

Es geht ihnen vor allem um dieses Wort: Gerechtigk­eit Das jüngste Opfer war zehn Jahre alt

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Foto: Andrew Mccaren/London News Pictures via Zuma, dpa Ein Kriminolog­e sagt über sie: „Sie haben nie aufgegeben, sich nie von ihrem Weg abbringen lassen. Das ist bemerkensw­ert.“Die Hinterblie­benen des Stadionung­lücks von Hillsborou­gh (von links nach rechts) Donna Miller, Michelle Miller, Louise Brookes und...

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