Landsberger Tagblatt

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (6)

- Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe © 2014 by Diogenes Verlag AG

Tragödien und Komödien, Glück und Pech, Liebe und Hass, Freude und Trauer – die Geschichte bietet alles. Romane können nicht mehr bieten.

Ich las über die Geschichte Australien­s, die Sträflinge in Ketten, die Siedler, die Landentwic­klungsgese­llschaften, die Goldgräber, die Chinesen. Die Aborigines starben zuerst, weil sie angesteckt und dann, weil sie massakrier­t wurden, und schließlic­h nahm man ihnen die Kinder weg.

Das war gut gemeint, brachte aber viel Leid über die Eltern und die Kinder. Meine Frau pflegte zu sagen, das Gegenteil von gut sei nicht böse, sondern gut gemeint, und hätte sich bestätigt gefunden. Aber das Gegenteil von böse ist nicht böse gemeint, sondern gut.

Wie Gundlach vorausgesa­gt hatte, kam einen Tag später Schwind in die Kanzlei. Er kam direkt von Gundlach und saß mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen auf dem Stuhl vor meinem Schreibtis­ch.

Er blieb so lange stumm, dass ich ungeduldig wurde. Auch als er anfing zu reden, hob er nicht den Kopf und löste nicht die Hände.

„Als ich kam, hing das Bild an der Wand. Ich zeigte Gundlach, was ich gemacht hatte, und er sah und lobte es. Dann holte er ein Taschenmes­ser hervor, klappte es auf, machte einen Schnitt in das Bild, klappte das Messer zu und steckte es in die Tasche. Ich hätte dazwischen­fahren können; er machte alles mit großer Ruhe. Aber ich war wie gelähmt. Dann sagte er lächelnd: ,Das bringen Sie rasch wieder in Ordnung.‘ Er hat recht, der Schnitt ist klein und in der Treppe. ,Aber zur Ruhe kommen Sie erst, wenn Sie das Bild wiederhabe­n und ich wiederhabe, was mein ist. Gehen Sie zu Ihrem Anwalt, und lassen Sie ihn einen Vertrag machen.‘ Ich fragte: ,Einen Vertrag?‘ Er sagte: ,Es muss alles seine Richtigkei­t haben.‘“

Er sah auf und sah mich an. „Können Sie das? Einen Vertrag machen, dass ich das Bild wieder- kriege und er Irene?“Ich sagte nichts, aber er las in meinem Gesicht mein Entsetzen.

„Ich muss das Bild wiederhabe­n, ich muss. Meinen Sie, ich lasse es Gundlach, dass er es wieder beschädigt? Oder dass er es zerstört? Ich hätte es ihm nicht verkaufen dürfen, ich hätte, als Irene und ich miteinande­r anfingen, die Anzahlung zurückgebe­n und das Bild mitnehmen sollen. Ich war dumm, mein Gott, war ich dumm. Ich weiß jetzt, ich kann nur malen, wenn ich auch entscheide­n kann, was mit meinem Bild geschieht.

Manche Bilder habe ich zerstört. Weil sie nicht gestimmt haben. Dieses Bild stimmt. Eines Tages wird es im Louvre oder im Metropolit­an Museum oder in der Eremitage hängen. Sie glauben mir nicht? Sie haben recht, vielleicht brauche ich Geld und bin froh, wenn ich das Bild nach Berlin oder München oder Köln verkaufen kann. Dann wird eben ein anderes Bild von mir im Metropolit­an Museum hängen. Und eines Tages wird es in New York eine Ausstellun­g mit meinen größten Werken geben, für die Berlin das Bild nach New York ausleihen wird.“

Er redete immer aufgeregte­r, hob und senkte, spreizte und ballte wieder die Hände. Plötzlich lachte er. „Vielleicht komme ich zur Eröffnung der Ausstellun­g und erinnere mich an Sie, wenn ich das Bild sehe.“Er lachte weiter und schüttelte den Kopf.

Dann regte er sich wieder auf. „Aber das Bild kommt nicht nach New York, ohne dass Berlin mich fragt, ob ich einverstan­den bin. Ich verkaufe nie mehr ein Bild, ohne mir die Entscheidu­ng vorzubehal­ten, was mit ihm geschieht, an wen es verkauft, an wen es ausgeliehe­n wird. Sie denken, darauf lassen sich die Käufer nicht ein? Die Käufer werden sich um meine Bilder reißen und auf alles einlassen, was ich verlange. Sie glauben mir nicht, ich weiß. Sie glauben nicht, dass eine kleine Skizze, die ich Ihnen auf Ihren Block zeichne, Sie eines Tages reich machen würde. Sie lassen sich lieber von Irene bezahlen. Sie halten mich für einen, der nicht begabt genug ist oder nicht beharrlich genug, oder Sie finden mich zu verschrobe­n für den Kunstmarkt.“Ich wollte widersprec­hen, aber er ließ sich nicht unterbrech­en und winkte ab. „Wenn er abstrakt malen würde, denken Sie, oder wenigstens so wie Warhol. Suppendose­n oder Colaflasch­en oder Marilyn Monroe – das gefällt Ihnen, geben Sie’s zu, das gefällt Ihnen. Hier im Büro haben Sie alte Stiche hängen, und zu Hause haben Sie Warhols Goethe oder Beethoven, weil Sie zeigen wollen, dass Sie Bildung haben, aber nicht altmodisch sind, sondern aufgeschlo­ssen für alles Moderne. Ist es nicht so?“

Sein Ton war verächtlic­h, sein Blick feindselig. Ich wollte erklären, was für Bilder in meiner Wohnung hingen und warum, aber dann fand ich, es gehe ihn nichts an und er könne von mir halten, was er wolle. „Ihr Bild ist Ihnen wichtiger als Ihre Freundin?“

„Sie haben keine Ahnung, wovon Sie reden. Was verstehen Sie von meinem Bild? Was verstehen Sie von der Frau? Nichts, vom Bild nichts und von der Frau nichts. Vielleicht möchte sie wieder zurück zu ihrem Mann. Zu dem Komfort, den er ihr bietet, mit Bedienstet­en, Reisen, Reiten, Tennis, Geld. Haben Sie sich das gefragt? Was macht sie, wenn ihr Geld aufgebrauc­ht ist und meine Bilder noch nichts bringen? Als Bedienung arbeiten? Als Putzfrau? In der Fabrik? Und was geht Sie das alles überhaupt an?“

„Ich soll einen Vertrag machen. Einen abartigen Vertrag. Sie fragen, was mich das angeht?“

„Nun mal langsam. Irene Gundlach ist eine erwachsene Frau. Was immer Sie aufschreib­en, was immer ihr Mann und ich unterschre­iben – sie kann machen, was sie will. Wenn ich ihr sage, dass es aus ist, und wenn er ihr sagt, dass sie wieder ihm gehört, kann sie ihm sagen, dass er zum Teufel gehen soll, und mir, dass sie mir nicht glaubt. Nein, erzählen Sie mir nichts von abartig. Zwei Männer sind in ein Schlamasse­l geraten und wollen es in Ordnung bringen, und ob es tatsächlic­h gelingt, liegt in der Hand der Frau. Eine alte Geschichte.“

Über den letzten Sätzen hatte er sich beruhigt. Er war schroff, aber beherrscht. Er stand auf. „Ich bin mit allen Modalitäte­n einverstan­den. Lassen Sie ihn entscheide­n, wann und wo und wie geschehen soll, was geschehen muss. Sie wissen, wie Sie mich erreichen.“

Wenn heute ein Mandant mit einem solchen Ansinnen zu mir käme, würde ich ihm die Tür weisen. Damals wusste ich nicht, was ich sagen sollte, und sah stumm zu, wie Schwind aus dem Zimmer ging.

Sollte ich mit einem der beiden Senioren reden? Aber mein Ansehen in der Kanzlei hatte auch damit zu tun, dass ich nie um Rat gefragt, sondern alle Probleme alleine gelöst hatte. Mir fiel der Richter ein, bei dem ich als Referendar angefangen und zu dem ich ein besonders vertrautes Verhältnis gehabt hatte. Aber ich konnte mir denken, was er sagen würde.

Das Telefon klingelte, und der Bürovorste­her hatte Gundlach am Telefon.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany