Fluch oder Segen?
Buchtipp Das Mädchen Eva wird zur Lebensretterin und als Heldin gefeiert. Nur eine ist unglücklich: Die Frau, der sie half
Landsberg Eva Seghers ist ein normales Mädchen. In ihrer jugendlichen Unbeschwertheit hat sie bislang kaum einen Gedanken an den Tod und das Sterben verschwendet. Doch eines Tages passiert etwas: Auf dem Schulweg sieht Eva eine alte Frau auf den Gleisen stehen, ein Zug naht heran. Geistesgegenwärtig zerrt sie die Frau von den Schienen und rettet ihr das Leben.
Nach ihrer selbstlosen Tat erfährt Eva Lob und Ehre, da sie einen Unfall gerade noch abgewendet hat. Obwohl ihr der Trubel um ihre Person unangenehm ist, beschließt sie, die alte Dame kennenzulernen. Als diese ihr erzählt, dass sie ihrem Leben ganz bewusst ein Ende setzen wollte, fällt Eva aus allen Wolken. Frau de Graaf hatte keine Lust, noch älter zu werden und einen beschwerlichen Lebensabend verbringen zu müssen. Sie sagte sich: Meine Krankheit ist das Alter. Sie wollte ihrem Dasein ein Ende bereiten.
Eva kann diese Logik nicht verstehen. Sie trifft sich regelmäßig mit Frau de Graaf und wird nachdenklich: Ist es ein Segen, lange zu leben? Darf ein Mensch selbst entscheiden, wann es genug ist? Wie verändert man seine Meinung darüber im Laufe der Lebensphasen? In gewisser Weise macht sich Eva sogar Vorwürfe, der alten Dame ihren sehnlichen Wunsch verwehrt zu haben. Frau de Graaf ihrerseits rügt sich, Eva in diese Situation gebracht zu haben. Wie schwer hätte das Mädchen traumatisiert werden können? Und der Lokführer, die Fahrgäste? Werden Evas Bemühungen, der alten Dame das Leben wieder schmackhaft zu machen, am Ende Erfolg haben?
„Lang soll sie leben“von Koos Meinderts ist ein außergewöhnlicher Roman. Vor allem, weil es kein Buch zum „Mitschluchzen“ist. Ganz im Gegenteil: Die durchdachte Argumentation von Frau de Graaf wird für den Leser anhand von Rückblenden in ihre erfüllte Jugend ersichtlich, in der auch die alte Frau vor Lebensfreude nur so sprühte. Beeindruckend ist, dass dieses traurige Thema locker-leicht verpackt wird. Als Leser freut man sich, Geschichten aus Frau de Graafs Jugend zu hören, Evas typischen Teenagerproblemen zu lauschen oder sich selbst aus der Distanz eine Meinung bilden zu können. Im Verlauf der Geschichte reift Eva von einem unbedarften Mädchen zu einer selbstbewussten jungen Frau.