Stachelige Festung mit Wassergraben
Die Wilde Karde schützt ihre Knospen und Blüten mit wassergefüllten Blatttrichtern vor Fressfeinden. Warum sie auf den ersten Blick selten Begeisterung auslöst
Über 1000 botanische Arten gibt es in Landsberg und Umgebung. Seltene, aber auch solche, die nur hier vorkommen. Der Landsberger Botaniker Dr. Andreas Fleischmann kennt sie alle. In einer Serie in unserer Zeitung stellt er einige in loser Reihenfolge vor. Heute geht es um die Wilde Karde.
Landkreis Die Wilde Karde (Dipsacus sylvestris) löst auf den ersten Blick sicher nicht viel Begeisterung aus: sie ist groß und stachelig und wächst gerne auf Brachflächen, Schuttplätzen und an Straßenrändern, die violetten Blüten sind klein und eher unauffällig, stehen aber zu vielen in dichten, kugeligen und ebenfalls stacheligen Blütenständen zusammen. Alles in allem sieht die Karde aus wie eine Distel.
Allerdings gehört sie nicht zu den Disteln, die Ähnlichkeit ist rein zufällig. Die Karde gehört zur selben Verwandtschaft wie Skabiosen, Witwenblumen, Geißblatt, Baldrian und Schneeball. Sie ist allerdings der einzige stachelige Geselle aus dieser botanischen Familie. Die Stacheln an Blättern, Stängeln und Blüten schützen diese Pflanze vor größeren Pflanzenfressern, die es auf das zarte Grün abgesehen haben. Aber auch gegen die kleineren Fressfeinde ist diese Pflanze gewappnet, denn sie schützt ihre Knospen und Blüten an der Spitze der Stängel durch eine ganze Kette von Wassergräben.
Dabei sind entlang des stacheligen Stängels immer zwei gegenüberliegende Blätter zu einem Trichter verwachsen. Diese Trichter sammeln Regenwasser. Der Stängel der Pflanze wächst also vom Boden bis nach oben zu den Blüten durch viele kleine Pools, die von den Blatttrichtern gebildet werden. Darin findet man auch immer wieder ertrunkene Insekten und Schnecken. Daher haben einige Wissenschaftler auch schon vermutet, dass es sich bei der Karde um eine fleischfressende Pflanze handeln könnte. Allerdings lockt sie im Gegensatz zu den echten botanischen Fleischfressern diese Tiere nicht an und bezieht auch keine Nährstoffe aus ihren Opfern.
Die Karde ist daher keine fleischfressende Pflanze, die Wassergräben dienen lediglich dem Schutz der Pflanze vor Fressfeinden, die ertrunkenen Kleintiere sind lediglich „Beifang“beziehungsweise Kollateralschaden. Ungebetene Gäste, die die zarten Knospen oder Blüten der Karde fressen könnten, werden so gar nicht bis dorthin durchgelassen, sie können am Stängel nur bis zum ersten Wassergraben klettern, dann ist für sie Schluss. Für Schnecken, Raupen, Ameisen und andere krabbelnde und kriechende Kleintiere bilden diese Wassertrichter nämlich unüberwindbare Barrieren – ganz wie der Wassergraben einer Ritterburg. Wer es dennoch versucht und den Graben überwinden will, fällt nicht selten hinein und ertrinkt.
Und selbst wenn einige der krabbelnden Insekten einmal einen Wassergraben der Karde überqueren können, stehen sie ein Stück weiter oben am Stängel bereits vor dem nächsten. Im Gegensatz zu einer Ritterburg mit Wassergraben gibt es bei der Karde auch keine Zugbrücke, die für geladene Gäste heruntergelassen werden könnte. Die gewünschten Blütenbesucher kommen nämlich direkt von oben, es sind allesamt fliegende Insekten. Und davon tummeln sich auf den kleinen violetten Blüten der Karde eine ganze Menge: diese stachelige Pflanze ist ein wahrer Bienen- und Hummelmagnet, und auch Schmetterlinge und Schwebfliegen finden hier viel Pollen und Nektar.
Die zapfenartigen Blütenköpfe der Karde zeigen dabei auch ein interessantes Aufblühmuster: normalerweise blühen Pflanzen mit mehreren Knospen in einer Blütentraube entweder von unten nach oben (zum Beispiel beim Fingerhut) oder von oben nach unten (bei Glockenblumen) auf. Die Karde ist die einzige heimische Pflanze, die mitten im Blütenstand anfängt zu blühen. Es bildet sich zuerst ein violetter Ring aus Blüten in der Mitte des grünen Köpfchens, von dem aus dann die nachfolgend aufblühenden Blüten ringsum in je einem Ring nach unten und nach oben wandern.
Es gibt in Europa zwei wild wachsende Kardenarten, die Wilde Karde und die seltenere Schlitzblättrige Karde – beide kommen auch im Landkreis Landsberg vor, beide zusammen zum Beispiel an den Baggerseen in Penzing. Daneben wurde schon seit dem Mittelalter eine Zuchtform selektiert, die Weberkarde, deren stachelige Blütenköpfe zum Aufrauhen von Wolle für Webarbeiten verwendet wurden. Diese drei Kardenarten bilden die typischen Wassergräben aus ihren Blättern. Seit einigen Jahrzehnten kommen daneben noch zwei weitere Kardenarten aus Nordamerika in Deutschland vor, die sich als invasive Pflanzen massiv ausbreiten.
Die Schlanke Schuppenkarde (Dipsacus strigosus) mit viel kleineren, kugeligen Blütenköpfchen mit cremeweißen Blüten ist eine der beiden, und sie kommt vor allem im östlichen Landkreis und an der Bahnline von Geltendorf nach München mittlerweile massenhaft vor, und bildet hohe, stachelige und undurchdringliche Gebüsche. Sie bildet jedoch nicht die typischen Wassergräben aus.
Diese kann man jetzt im Hochsommer aber bei unserer heimischen Karde beobachten, zusammen mit den vielen eifrigen Insekten, die sich an den violett blühenden Spitzen dieser stacheligen Gewächse tummeln.