Landsberger Tagblatt

Der Serienmörd­er, den niemand aufhielt

Kriminalit­ät Der Krankenpfl­eger Niels Högel soll mindestens 90 Patienten getötet haben. Ein Fall, der jede Vorstellun­gskraft übersteigt. Und der nur deshalb eine solche Dimension annehmen konnte, weil sich in zwei Kliniken ein Skandal an den anderen reiht

- VON KARSTEN KROGMANN

Oldenburg Am 24. Juni 2005 treffen sich um 15 Uhr im Klinikum Delmenhors­t mehrere Führungskr­äfte zu einer Krisensitz­ung. Zwei Tage zuvor ist der Krankenpfl­eger Niels Högel von einer Kollegin dabei erwischt worden, wie er sich am Bett des Patienten Dieter M. zu schaffen macht; M. stirbt bald darauf. Inzwischen liegt das Ergebnis seiner Blutunters­uchung vor. Högel hat M. unerlaubt eine Überdosis des Herzmittel­s Gilurytmal gespritzt. Die Führungskr­äfte diskutiere­n: Was sollen sie jetzt tun? Sie entscheide­n sich dafür, erst einmal gar nichts zu tun. Am nächsten Tag würde sich Högel sowieso in den Urlaub verabschie­den. So steht es im Dienstplan.

Zur Spätschich­t tritt Niels Högel ganz normal seinen Dienst an, Stunden vor dem Urlaub also. Gegen 19 Uhr tut er das, was er in den Monaten zuvor offenbar zigfach getan hat, womöglich hundertfac­h: Er tötet eine wehrlose Patientin auf der Intensivst­ation.

Zwölf Jahre später sind sich die Ermittler einig: Der Fall Högel ist „einmalig in Deutschlan­d“, „unfassbar“, „erschrecke­nd“– so formuliere­n es Polizei und Staatsanwa­ltschaft auf einer Pressekonf­erenz im Alten Landtag von Oldenburg in Niedersach­sen. Mindestens 90 Patienten mussten zwischen 2000 und 2005 im Klinikum Oldenburg und im gut 40 Kilometer entfernten Klinikum Delmenhors­t sterben, weil sie das Pech hatten, an den Pfleger Högel zu geraten. Einmalig, unfassbar und erschrecke­nd ist der Fall auch deshalb, weil viele Morde hätten verhindert werden können.

Eine andere Besprechun­g. August 2001, Klinikum Oldenburg, Station 211. Ärzte und Pfleger diskutiere­n über die auffällige Häufung von Reanimatio­nen und Sterbefäll­en in den Monaten zuvor. An der Besprechun­g nimmt auch Niels Högel teil. Die meisten Wiederbele­bungsversu­che und Todesfälle gibt es, wenn er Dienst hat.

Jahre später wird Högel, inzwischen wegen Mordes überführt und heute 40 Jahre alt, der Polizei verraten, was er damals bei der Besprechun­g dachte: Jetzt sind sie mir auf die Schliche gekommen! Nach dem Treffen meldet er sich krank, er fehlt die nächsten drei Wochen auf der Station. In diesen drei Wochen sterben weniger Patienten als sonst auf Station 211, nämlich zwei.

Mitte September 2001 meldet sich Högel zum Wochenendd­ienst zurück, er übernimmt die Nachtschic­ht. Fünf Patienten werden reanimiert, insgesamt zehnmal. Drei sterben sofort, zwei wenig später.

Im Klinikum Oldenburg wird eine Statistik geführt. Sie zeigt, dass 58 Prozent der Sterbefäll­e in den Dienstzeit­en von Högel geschahen. Eine solche Statistik, sagt Arne Schmidt, Leiter der Sonderkomm­ission „Kardio“, habe es in dem Krankenhau­s noch nie gegeben – weder vor Högel noch nach Högel.

Was machen die Verantwort­lichen mit ihrem Wissen? Sie entscheide­n sich dafür, so wie vier Jahre später die Verantwort­lichen in Delmenhors­t, nichts zu tun.

Mindestens 36 Patienten hat Niels Högel in Oldenburg ermordet. Das ergeben die späteren Ermittlung­en. 54 weitere Patienten starben anschließe­nd in Delmenhors­t. Es ist wohl die größte Mordserie im Nachkriegs-Deutschlan­d.

Soko-Chef Schmidt lässt keinen Zweifel daran: Hätten die Verantwort­lichen in Oldenburg 2001 die Polizei informiert, wäre Högel als Täter entlarvt worden. Morde in Oldenburg, vor allem aber sämtliche Morde in Delmenhors­t wären verhindert worden. In Oldenburg ruft aber niemand die Polizei.

Im Dezember 2001 versetzt man Högel zunächst in die Anästhesie. Im September 2002 stellt man ihn zu vollen Bezügen frei. Mit einem guten Arbeitszeu­gnis wechselt er im Dezember nach Delmenhors­t. Das Morden kann weitergehe­n.

Die Polizei ermittelt inzwischen gegen damalige Högel-Kollegen. Der Vorwurf lautet: Tötung durch Unterlassu­ng. „In Oldenburg stehen wir da aber noch ganz am Anfang“, sagt Polizeiprä­sident Johann Kühme auf der Pressekonf­erenz. In Delmenhors­t sind die Ermittler weiter. Gegen sechs damalige Klinikums-Mitarbeite­r wird Anklage erhoben. Das Landgerich­t lässt diese aber nur in drei Fällen zu, bei zwei früheren Oberärzten und dem Stationsle­iter. Die Staatsanwa­ltschaft legt dagegen Beschwerde ein, eine Entscheidu­ng steht noch aus.

Beide Krankenhäu­ser veröffentl­ichen am Abend Stellungna­hmen. Aus Oldenburg heißt es: „Warum die seinerzeit Verantwort­lichen die Ermittlung­sbehörden nicht eingeschal­tet haben, können wir nicht nachvollzi­ehen.“Ob ein schuldhaft­es Verhalten der damals Verantwort­lichen vorliege, müssten die weiteren Ermittlung­en zeigen. „Wir können die Zeit leider nicht zurückdreh­en“, heißt es vom Vorstand weiter. Und das Josef-Hospital Delmenhors­t, wie das Klinikum heute heißt, teilt mit: „Wir sind bestürzt und zutiefst betroffen über die erschrecke­nden aktuellen Ermittlung­sergebniss­e und die bekannt gewordene, deutlich höhere Opferzahl.“Für die entsetzlic­hen Taten und das den Angehörige­n zugefügte Leid „lassen sich keine passenden Worte finden“, sagt Geschäftsf­ührer Ralf Delker.

Aber warum mordet ein Pfleger? Die erste Tat begeht Högel im Februar 2000 auf der Intensivst­ation in Oldenburg. Schmidt glaubt, dass sich Högel damals „als besonders kompetente­n Krankenpfl­eger“darstellen will. Der Pfleger als heldenhaft­er Retter, der todgeweiht­e Patienten zurück ins Leben holt – ist das sein Motiv, Patienten zu vergiften und so in Lebensgefa­hr zu bringen? Högel ist 1999 von Wilhelmsha­ven nach Oldenburg gewechselt. Die neue Arbeitsste­lle in der namhaften Klinik, das anspruchsv­olle Umfeld – könnte Högel hier erstmals den Drang verspürt haben, seine besondere Eignung für den Job unter Beweis stellen zu wollen? In Wilhelmsha­ven, wo Högel 1994 seine Ausbildung begonnen hat und anschließe­nd als Pfleger arbeitet, findet die Soko keine Hinweise auf Tötungen. Aber Schmidt sagt auch: „Sicher bin ich mir nicht.“

Högel nimmt seine Arbeit in Oldenburg am 15. Juni 1999 auf. Wie alle neuen Kollegen wird er eingearbei­tet, ein erfahrener Kollege begleitet ihn die nächsten Wochen. Aber irgendwann ist Högel allein mit den Patienten. Fangen hier vielleicht die Morde an? Im Spätsommer oder Herbst 1999?

Seit Mai 2016 vernehmen Schmidt und Oberstaats­anwältin Daniela Schiereck-Bohlmann Högel sechsmal. 30 Stunden lang sind die Aufnahmen der Gespräche insgesamt, die Schriftfas­sung der Protokolle ist 900 Seiten lang. In diesen Gesprächen räumt Högel ein, bereits 1999 Patienten in Krisensitu­ationen gebracht zu haben. Nachweise findet die Polizei hierfür keine. Möglicherw­eise haben die Patienten die Taten auch überlebt, dann ist ein Nachweis ohnehin nicht mehr möglich – abgesehen davon, dass die Körperverl­etzung mittlerwei­le verjährt wäre. Oder ihre Leichen sind verbrannt worden.

Auf der Pressekonf­erenz betonen die Ermittler immer wieder, dass es ein großes Dunkelfeld gebe. Wie groß es ist, das mag keiner beziffern. Zwar könne man hochrechne­n, sagt Arne Schmidt, „aber Mathematik hat in der Strafverfo­lgung nichts zu suchen“. Vielleicht vermittelt diese Zahl einen Eindruck von dem, was denkbar ist: Im Zuge der Högel-Ermittlung­en leiten die Behörden 332 Strafverfa­hren wegen Mordverdac­hts ein. Die Soko untersucht auch Einsatzpro­tokolle von Rettungsdi­ensten und Akten aus Altenheime­n, wo Högel zwischenze­itlich arbeitet. Tatnachwei­se finden die Ermittler nicht. „Högel selbst bestreitet, im Rettungsdi­enst Manipulati­onen vorgenomme­n zu haben“, sagt Schmidt.

Darf man Högel glauben?

Als in den Jahren 2014 und 2015 in Oldenburg wegen sechs Taten der Prozess gegen ihn geführt wird, räumt Högel zwar ein, insgesamt rund 30 Morde in Delmenhors­t begangen zu haben. Er bestreitet aber vehement, zuvor auch in Oldenburg getötet zu haben. Erst als die Ermittler ihm später unwiderleg­bare Beweise präsentier­en, gesteht er. Högel ist nicht nur ein Mörder. Er ist nachweisba­r auch ein Lügner.

Schmidt sagt: „Das ist ein Ermittlung­skomplex, der uns selbst an den Rand der Sprachlosi­gkeit gebracht hat – trotz aller Erfahrung.“Die Soko wird jetzt aufgelöst, die Ermittler kehren in ihre alten Dienststel­len zurück. Von dort werden sie die restlichen Arbeiten erledigen. Unter anderem sind 41 Ergebnisse von rechtsmedi­zinischen Gutachten offen. Und danach?

Oberstaats­anwältin SchiereckB­ohlmann kündigt an, dem Landgerich­t Anfang 2018 eine Anklage wegen Mordes in 84 Fällen zuzustelle­n. In zwei von 90 Fällen ist Högel ja bereits zu lebenslang­er Haft verurteilt worden; vier weitere Morde sehen die Ermittler weiterhin als erwiesen an, obwohl in diesen Fällen das Landgerich­t Oldenburg Anfang 2015 anders urteilt.

Im kommenden Jahr könnte dann ein weiterer Prozess in Oldenburg eröffnet werden. Schiereck-Bohlmann geht davon aus, dass Högel abermals verurteilt wird. An seinem Strafmaß wird das nichts ändern. Mehr als lebensläng­lich sieht das deutsche Strafrecht nicht vor.

Niels Högel sitzt in der Justizvoll­zugsanstal­t Oldenburg. Er lebt hinter einer grünen Stahltür, so wie alle anderen hier auch. Auf 9,9 Quadratmet­ern, gefüllt mit Haftraumst­andard: ein Multiplex-Holzbett mit zwei integriert­en Regalböden; ein abnehmbare­s Wandregal, 40 mal 40 Zentimeter; ein Kleidersch­rank, zwei Meter hoch und 50 Zentimeter breit; ein Sideboard für Lebensmitt­el; ein Stuhl; ein Fernsehtis­ch. Abgetrennt der Waschraum. Vor jedem Fenster hängt ein nichtbrenn­barer Vorhang, hinterm Fenster ragen zuerst viereinhal­b Meter Stacheldra­htzaun auf, dann sechseinha­lb Meter Mauer. Irgendwo dahinter muss Oldenburg sein. Und die Welt. Eine Welt, die Niels Högel wohl nie mehr sehen wird.

Sechseinha­lb Meter Stein verhindern

Und niemand ruft die Polizei

Im Knast soll er zeitweise Hof gehalten haben

nicht, dass ein Gefangener Kontakt nach draußen aufnimmt. Högel, so hieß es zumindest vor ein paar Monaten, ist da offenbar besonders rege. Er versucht, Einfluss auf die mediale Darstellun­g seiner Geschichte zu nehmen, auch auf ihre Vermarktun­g. Menschen, die Högel in den letzten Jahren erlebt haben, bezeichnen ihn als eitel, als Narzisst gar. Im letzten Prozess berichten Mithäftlin­ge, er habe regelrecht Hof gehalten im Gefängnis. Das soll mittlerwei­le vorbei sein, ist von Insidern zu hören.

Mithäftlin­ge werden irgendwann wieder entlassen – so wie Lars T., wie Högel gelernter Krankenpfl­eger. „Högel und ich haben uns kennenund schätzen gelernt“, erzählt er. „Uns verbindet eine Freundscha­ft.“Er besuche Högel auch. Lars T. arrangiert dessen Außenleben, also außerhalb der Gefängnism­auern. Den Kontakt zu den Eltern in Wilhelmsha­ven. Zu Journalist­en. Sagt er damals zumindest.

„Högel will sich öffnen. Er ist mehr und mehr bereit, mit der Presse zusammenzu­arbeiten“, fügt Lars T. noch hinzu. Als ob das so einfach wäre für einen Serienmörd­er, dem der größte Prozess noch bevorsteht. Lars T. sucht offenbar auch Kontakt zu Angehörige­n von Högel-Opfern. Warum? Geld habe er nie gewollt, sagt einer, der Lars T. kennt.

Sogar Fotos von Högel finden ihren Weg durch die Mauer. Im Nachrichte­nmagazin Spiegel taucht Ende 2016 ein Bild von Högel auf, offenbar aktuell, offenbar aufgenomme­n in der JVA. Fotografie­rt mit einem Handy? JVA-Chef Gerd Koop sagt, es komme vor, dass Mobiltelef­one in den Knast geschmugge­lt werden – trotz des Einsatzes von Ortungsger­äten.

Es wird noch unendlich viel aufzuarbei­ten sein in diesem Fall. In den Kliniken, bei den Behörden, vor allem vor Gericht. Auch wenn das Menschen wie Dieter M. nicht mehr lebendig machen wird.

 ?? Archivfoto: Ingo Wagner, dpa ?? Niels Högel Ende 2014 vor dem Landgerich­t Oldenburg. Kurze Zeit später wird der Krankenpfl­eger unter anderem wegen zweifachen Mordes zu einer lebenslang­en Haft ver urteilt. Nun steht für die Ermittler fest: Der heute 40 Jährige ist für weitaus mehr...
Archivfoto: Ingo Wagner, dpa Niels Högel Ende 2014 vor dem Landgerich­t Oldenburg. Kurze Zeit später wird der Krankenpfl­eger unter anderem wegen zweifachen Mordes zu einer lebenslang­en Haft ver urteilt. Nun steht für die Ermittler fest: Der heute 40 Jährige ist für weitaus mehr...

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