Radeln mit Ritterromantik und Rembrandt
Münsterland Mehr als 100 Wasserschlösser und Herrensitze: Der „Wilde Westen“lässt sich wunderbar mit dem Fahrrad erkunden – eine Natur- und Kultur-Tour zwischen Anholt, Raesfeld und Borken
von erzählen die silbrigen Geldstücke; die ältesten in der Ausstellung stammen aus den Jahren 1227 bis 1246. Obwohl sich die Barockresidenz, die zu den größten und bekanntesten in Westfalen zählt, in Privatbesitz befindet und von der fürstlichen Familie bewohnt wird, sind viele der prächtigen Säle seit den 1960er Jahren öffentlich zugänglich: Im üppig ausgestatteten Museum in der Hauptburg schüttelt Maria Nehling aus dem Ärmel ihres roten Blazers Geschichte und Geschichten. Von Doktoranden, die im beachtlichen Bestand der um 1450 gegründeten Bibliothek forschen. Von verzierten Jagdgewehren, die in der Waffenkammer zu sehen sind. Von der einstigen Bedeutung des Schlosses als regionaler Heiratsmarkt – bei dem sich auch ihre Großeltern einst kennenlernten. In ihrer Hand klimpert der Schlüsselbund, mit dem sie jede noch so verborgene Tür in der Burg öffnet. Aus dem Jahr 1665 stammt der monumentale Rittersaal, in dem es kein Porträt gibt, das Maria Nehling nicht benennen und mit einer Anekdote spicken kann – als sei es ihr privates Fotoalbum.
Nicht immer ist die Wasserburg solch ein Vorzeigeschloss gewesen wie heute: Rund 70 Prozent der historischen Bausubstanz sind im Zweiten Weltkrieg bei einem Bombenangriff zerstört worden. Mehr als 40 Jahre lang dauerte der Wiederaufbau. Wer heute die Stufen über den roten Teppich auf der Eichentreppe hinaufsteigt, ahnt von diesem kulturhistorischen Desaster nichts. Es geht hinauf in die Schatzkammer – die Gemäldegalerie. Ewa 700 Werke umfasst die Sammlung der Fürsten; sie ist eine der größten Kunstsammlungen in deutschem Adelsbesitz.
Das berühmteste Werk im Haus hängt inmitten anderer flämischniederländischer Bilder des 16. und 17. Jahrhunderts: Es ist Rembrandts „Diana mit Actäon und Callisto“, 1774 in Paris erworben. Ein düsteres Barockgemälde, das eine Szene aus Ovids Erzählung „Metamorphosen“zeigt. Die Jagdgöttin Diana badet mit ihren Nymphen in einer Quelle – und wird dabei vom Jäger Actäon beobachtet. Zur Strafe verwandelt sie ihn in einen Hirsch, der von seinen eigenen Hunden zerfleischt wird. Maria Nehling erzählt die Geschichte des Bildes – und deutet dann auf ein anderes, weitaus unbekannteres Gemälde nebenan, des- sen Expressivität sie schätzt. „Ich bin keine Kunstexpertin“, sagt sie, „aber schauen Sie sich nur mal diesen Gesichtsausdruck an!“Lächelnd betrachtet sie „Die Hühneraugenoperation“von Pieter Symonsz Potter (1597–1652). Andere seiner Bilder hängen etwa im Amsterdamer Rijksmuseum. Weitere Kunstprominenz der Galerie ist unter anderen Lucas Cranach der Ältere.
Draußen wanken zwei Nilgänse über den Rasen am Kanalgarten. In der Gräfte, dem Wassergraben, schreit ein Blesshuhn nach Aufmerksamkeit, taucht ab und andernorts wieder auf. Das weiße Schwanenpaar steckt die Köpfe ins Gefieder und döst. Drinnen bleibt Maria Nehling vor einem Porträt stehen: „Und hier ist unser großer Kunstkenner“, sagt sie und deutet auf das Bildnis Ludwig Carl Ottos Fürst zu Salm-Salm (1721–1778). Er war der Sammler, dem das Museum viele wertvolle Gemälde verdankt. Der italienische Maler Bernardino Nocchi hat nicht nur Papst Pius VII. porträtiert, sondern auch den kunstbegeisterten Anholter Fürsten. Im leuchtend blauen Gewand mit roter Schärpe blickt Ludwig Carl Otto von der Wand der Galerie aus dem Fenster in den Schlossgarten, der zugleich naturnaher Landschaftspark und choreografierter Barockgarten ist.
Etwa 35000 Gäste haben sich die Wasserburg Anholt und den Park im vergangenen Jahr angesehen. „Früher reisten unsere Besucher noch mit dem Auto an“, sagt Nehling. „Heute kommen sie mit ihren E-Bikes.“Wer Strom für den nächsten Ausflug braucht, der findet am Parkhotel Anholt eine Ladestation für E-Bikes. Eine der nächsten Fahrradtankstellen gibt es 37 Kilometer weiter südöstlich: am Schloss Raesfeld, das der Reichsgraf Alexander II. von Velen Mitte des 17. Jahrhunderts errichtet hat.
Schon von weitem ist der höchste westfälische Schlossturm zu sehen: Er ragt 52,5 Meter auf. Aufgewühlt schimpfen der Erpel und seine Begleiterinnen auf dem Vorburghof. Die Stockenten watscheln zielstrebig über die hölzerne Brücke – bloß weg. Warum nur? Ein Blick auf die Speisekarte des Restaurants im Wasserschloss Raesfeld verrät, woher ihre Fluchtgedanken rühren könnten: Heute steht Barbarie-Entenbrust an Rotweinjus auf der Menükarte. Doch die Enten sind offensichtlich die einzigen, die hier fliehen wollen. Denn bei jedem Wetter spazieren fotografierende und staunende Besucher durch den Schlossgarten um das Residenzschloss herum.
Die Gemäldegalerie ist die Schatzkammer des Hauses