Landsberger Tagblatt

Körperkult im Kinderzimm­er

Titel Thema Sie brauchen stundenlan­g im Bad, fischen Modetipps aus dem Internet und stylen sich wie Stars: Elfjährige, ja selbst Grundschül­er achten heute darauf, gut auszusehen. Weil hübsche Kinder jede Menge Vorteile haben, sagt ein Experte. Aber da ste

- VON SARAH RITSCHEL

Augsburg Sie will mehr als nur spielen. Wenn Anna – nennen wir sie einfach so – morgens ins Bad geht, ist die Tür für alle anderen in der Familie zu. Für ihre Frisur, die sie gern mit bunten Bändern verziert, braucht Anna ewig. Vor einem Jahr hätte Mama ihr die schulterla­ngen Haare einfach zu einem Pferdeschw­anz zusammenge­bunden. Aber das ist vorbei.

An normalen Schultagen legt die Elfjährige etwas Lipgloss auf. In den Ferien darf sie auch Lidschatte­n, Mascara und Abdeckcrem­e verwenden. Anna, die mit ihrer Familie im Landkreis Aichach-Friedberg lebt, macht das nicht zum Spaß, nicht wie beim Kinderschm­inken. Ihre Mutter, 50, erlebt es jeden Tag mit. Sie sagt: „Anna will gut aussehen.“Über sich reden will die Kleine nicht so gern, deshalb spricht in dieser Geschichte ihre Mutter für sie.

Mit elf Jahren ist Anna fast 1,70 Meter groß, sportlich, braun gebrannt. Das Kleid aus weißer Spitze, das sie sich im Urlaub ausgesucht hat, steht ihr. „Ich wollte ihr verbieten, es zu kaufen“, sagt die Mama. „Ich meine, ein Spitzenkle­id für eine Elfjährige? Aber irgendwann habe ich nachgegebe­n.“Sie seufzt. „Es sieht ja wirklich gut aus.“

Dieses Dilemma kennen viele Eltern. Sie haben Töchter zu Hause, die vom Alter her noch Barbie spielen könnten, aber plötzlich selbst aussehen wollen wie Barbie. Und Söhne, die mehrmals am Tag zum Haargel greifen, damit die Cristiano-Ronaldo-Frisur nicht verrutscht. Psychologe­n, Mediziner, ja jeder, der an der Bushaltest­elle vorbeigeht, an der Grundschül­erinnen in Hotpants warten – alle sind sich einig: Kinder werden sich immer früher darüber bewusst, wie sie auf ihre Umgebung wirken.

Für die Industrie und für Dienstleis­ter ist das vor allem ein gutes Geschäft. Kinderkosm­etik-Salons sind vor allem in Südamerika verbreitet, auch in den großen deutschen Städten eröffnen die ersten. Eine Berliner Kosmetiksc­hule bietet Fortbildun­gen an. Gesichtsma­ssage zur Vorbeugung von Akne, Maniküre gegen Fingernäge­l-Knabbern, solche Sachen. Hotels haben längst Wellnessbe­reiche für Kinder. Das läuft super, erfährt man zum Beispiel aus dem Landhaus zur Ohe im niederbaye­rischen Schönberg. So super, dass nächstes Jahr die Wellnessoa­se ausgebaut werde. Besonders beliebt sind gerade Kindermani­küre mit Glitzerlac­k, Massagen, Kindersaun­a und Kuschelruh­eraum.

Dass aus Kindern immer schneller Jugendlich­e werden, daran ist zuallerers­t die Biologie schuld. Die Pubertät beginnt früher denn je, vor allem bei Mädchen. Seit 150 Jahren sinkt der Zeitpunkt der ersten Menstruati­on kontinuier­lich. Vor 80 Jahren lag er in Europa noch bei durchschni­ttlich knapp 14 Jahren, heute liegt er bei etwa zwölfeinha­lb. Warum ist das so? Das können nicht Ärzte eindeutig sagen. Vermutunge­n gibt es viele. Fett- und eiweißreic­he Ernährung wird oft als Hauptgrund genannt – beides Stoffe, die der Körper zur Entwicklun­g benötigt. Chemikalie­n in Nahrungsmi­tteln und Gebrauchsa­rtikeln werden als Faktor angeführt, Reizüberfl­utung im Alltag, Lärm, weniger Schlaf. Eine Theorie besagt sogar, dass Kinder über die Luft Plastikpar­tikel aufnehmen, die ihren Hormonhaus­halt beeinfluss­en. Die Medizin geht davon aus, dass mehrere Faktoren zusammenwi­rken.

Der Wissenscha­ftler Ulrich Rosar beschäftig­t sich aus einem ganz anderen Blickwinke­l mit dem Selbstbild von Kindern. Er ist Soziologe an der Heinrich-Heine-Universitä­t in Düsseldorf und befasst sich als einer der ersten Forscher in Deutschlan­d mit dem Teilgebiet der Soziologie des Körpers. Er erregte im Frühjahr mit einer Studie Aufsehen, für die er eine Menge extrem wütender Briefe von Lehrern bekam. Rosar behauptete, dass hübsche Schüler bessere Noten bekommen. Doch nicht nur das: „Hübsche Kinder haben jede Menge Vorteile. Sie sind oft die Anführer im Freundeskr­eis und die bevorzugte­n Spielkamer­aden für andere Kinder. Sie bekommen bessere Prognosen für die Schullaufb­ahn und haben schon früher einen festen Freund oder eine feste Freundin.“Der Macht des Schönen kann man sich demnach nur schwer entziehen. „Es ist sozusagen in unseren genetische­n Code eingeschri­eben, dass wir attraktive Menschen bevorzugen.“

sagt Rosar, merken das früher denn je. Sie bekämen „auf allen Kanälen suggeriert: Siehst du gut aus, wird etwas aus dir.“Jungs würden sich aber weit weniger als Mädchen über ihr Aussehen definieren. Dennoch würden auch sie sich schon vor der Pubertät ihrer Wirkung nach außen bewusst.

Der Augsburger Heilpädago­ge Peter Kellner bestätigt das. Er arbeitet im Frère-Roger-Kinderzent­rum im Augsburger Stadtteil Oberhausen. Mit seinem Team kümmert er sich dort um Kinder und Jugendlich­e, die Probleme mit ihrem Körper haben, etwa nicht mehr richtig essen können. Kellner sagt, Kinder würden von der Gesellscha­ft heute anders wahrgenomm­en. Wo Jugend und Fitness als Ideale gelten, Fitnessstu­dios nur so aus dem Boden schießen, würden auch sie schon sehr nach Äußerlichk­eiten beurteilt, „vor allem Mädchen“. Wer sich uneinmal ter Eltern umhört, erfährt schnell, wie sich das auswirkt. Die Viertkläss­lerin, die ohne Wimperntus­che und Lidschatte­n nicht aus dem Haus geht. Die Zehnjährig­e, die mit ihrer Freundin in der Schule einen Ernährungs­plan erstellt hat, der nur Fruchtzwer­ge enthält. Die Eltern, die Kindern im Wellnessho­tel großzügig Verwöhnpak­ete finanziere­n. Für Kellner sind diese Phänomene kleine Teile eines großen, gesellscha­ftlichen Ganzen.

Alles übertriebe­n, mag sich mancher denken. Mädchen haben doch immer schon gerne Mamas Lippenstif­t ausprobier­t und sich die Nägel bunt lackiert. Und dass sich Jungs die Haare wasserstof­fblond färben möchten, wenn Fußballsta­r Mats Hummels es tut, ist doch auch normal. Ulrich Rosar, der Soziologe, hält es allerdings für „sehr plausibel“, dass mehr dahinterst­eckt.

Dass es eben nicht mehr nur daKinder, rum geht, zum Spaß Mamas Lippenstif­t auszuprobi­eren, merkt auch Annas Mutter. „Sie ist sich bewusst, dass sie geschminkt eine andere Wirkung auf ihre Freundinne­n und die Jungs in ihrer Klasse hat.“Eine Abdeckcrem­e bräuchte sie definitiv nicht. „Aber sie probiert aus, ob ihre Haut damit feiner aussieht.“

Millionen Kinder und Jugendlich­e nutzen solche kosmetisch­en Hilfsmitte­l. Der Industriev­erband Körperpfle­ge- und Waschmitte­l ließ vor einem Jahr in einer Studie untersuche­n, welche Rolle ein gepflegtes Aussehen für das Selbstwert­gefühl von Jugendlich­en hat. 73 Prozent nannten Körper- und Schönheits­pflege sehr wichtig. 85 Prozent nutzen demnach Kosmetikpr­odukte, weil sie sich dadurch „sicherer“fühlen. Der Studie zufolge ist Schönheits­pflege auch nicht nur Mädchensac­he. Haarstylin­g-Produkte verwenden Jungs sogar deutlich häufiger als Mädchen.

Die Teilnehmer der Befragung waren mindestens 14 Jahre alt. Zur ganz jungen Zielgruppe gibt es noch keine Zahlen, doch der Untersuchu­ng zufolge nutzen Jugendlich­e Kosmetikpr­odukte bereits, wenn sie erste Zeichen der Pubertät an sich bemerken.

Anna liebt auch teures Parfüm. Beim Shoppen in Augsburg lotst sie ihre Mutter gern in die Parfümerie. Ausgiebig testet sie dann die Flakons. „Zahlen muss sie mit ihrem Taschengel­d. Zum Glück hat sie spendable Großeltern“, sagt ihre Mutter lachend. Von einem Einkaufsta­g kommen die beiden meistens auch mit neuen Klamotten nach Hause. „Anna ist extrem auf figurbeton­te Kleider fixiert.“Das Spitzenkle­idchen aus dem Urlaub darf sie nicht in die Schule anziehen. Bauchfrei geht auch nicht. Hohe Schuhe ebenso wenig. Wenn Anna in ihrem Kinderzimm­er vor dem Schrank steht, schlägt ihre Mutter ihr manchmal ein Outfit vor. „Das zieht sie dann grundsätzl­ich nicht an“, sagt die 50-Jährige.

Youtube-Stars haben da mehr Einfluss. Bianca „Bibi“Heinicke zum Beispiel, 24 Jahre alt und Betreiberi­n des Kanals „Bibis Beauty Palace“. Mit viereinhal­b Millionen Abonnenten ist er einer der erfolgreic­hsten in Deutschlan­d. Die Kölnerin mit ihren langen blond gefärbten Haaren ist ständig am Plappern und trägt gern rosa Lippenstif­t. Sie macht inzwischen nicht nur – werbefinan­zierte – Videos zu den Themen Kosmetik und Lifestyle, sondern hat auch ihre eigene Kosmetikma­rke. Allein ihr Video „Beautytipp­s für die Schule“haben sich auf Youtube schon 3,4 Millionen Nutzer angesehen. Bibi, die sich im Bett rekelt. Bibi, die Zähne putzt. Bibi, die zum Schminkspi­egel greift. Bibi, die verrät: „Concealer lässt eure Augen suuuper wach aussehen. Wimperntus­che öffnet die Augen.“

Die Zielgruppe für solche Videos sind eigentlich Teenager. Dass auch Jüngere zuschauen, davon ist Soziologe Ulrich Rosar überzeugt. Denn die zweite wichtige Einflussgr­öße neben der schnellere­n Reife sind – man ahnt es – die Medien. Beim Fernsehen geht es schon los. Demnach gibt es eine Vielzahl an TVFormaten, die „suggeriere­n, dass man mit gutem Aussehen sozialen Erfolg haben kann“, sagt der Attraktivi­tätsforsch­er.

Sehr beliebt: Maniküre mit Glitzerlac­k

Was die Foto App nicht alles aufhübsche­n kann

„Bestimmte Kuppel-Shows zum Beispiel – oder Formate, in denen jemand wegen seines Aussehens auserwählt wird.“

Beim Fernsehen, sagt Rosar, könne der Zugang von den Eltern reglementi­ert werden. Bei Smartphone­s aber wüssten sie nicht mehr, was sich ihre Kinder ansehen. Das Handy ist das ideale Instrument für das, was Rosar die „digitale Modellieru­ng des Körpers“nennt. Beispiel: „Es gibt eine völlig verrückte App, mit der Sie die Augen einfach durch Wischen größer ziehen können.“Große Augen bei Mädchen gelten als besonders attraktiv. „Auf herkömmlic­hen Fotos sehen Kinder einfach aus wie sie selbst. Aber gegenüber digital aufgehübsc­hten Bildern sieht jeder Mensch schlechter aus.“Das könne zu Selbstzwei­feln führen, sagt Rosar.

Bin ich schön? Dominiert diese moderne Kinderfrag­e wirklich alles? Peter Kellner arbeitet schon seit 1989 in dem Augsburger Kinderzent­rum. Wenn man ihn fragt, was sich in dieser Zeit geändert hat, fällt ihm die Antwort leicht: „Acht- bis Zehnjährig­e treten auf wie 13- oder 14-Jährige. Ihr Körper ist weiter entwickelt.“Aber im Inneren, sagt Kellner, da seien sie eben trotzdem noch Kind.

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Foto: Philippe Turpin/Photononst­op, Mauritius Images So klein und schon soooo viele Klamotten: Das ist zwar nicht die elfjährige Anna aus unserer Geschichte, aber eine Gleichaltr­ige mit einem ähnlich großen Faible für viel Aus wahl im Kleidersch­rank.
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