Landsberger Tagblatt

Ein Löwe macht noch keinen Oscar

Festival Beim 74. Filmfest in Venedig steht an diesem Samstag die Preisverga­be an. Die Spekulatio­nen um Gewinner sind nicht selten bereits Hochrechnu­ngen auf weitere Weihen

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Venedig Die Frage, welche Filme sich am Ende des 74. Filmfestiv­als von Venedig Chancen auf die Oscars ausrechnen können, wird fast heißer diskutiert als die nach dem Favoriten auf den Goldenen Löwen. Ein Blick auf die Preisverga­be am Lido im vergangene­n Jahr zeigt allerdings, dass es eher selten die gehypten Oscar-Kandidaten sind, die hier ausgezeich­net werden. Den Goldenen Löwen 2016 etwa erhielt der fast vierstündi­ge Schwarz-WeißFilm „The Woman Who Left“des philippini­schen Regisseurs Lav Diaz. Zwar gewann auch Emma Stone für ihren Auftritt in „La La Land“, aber der Großteil der Preise ging an entschiede­nes Nischenkin­o.

Diese fast trotzige Neigung, bei der Löwenverga­be immer auch ein Zeichen gegen das Kommerzkin­o zu setzen, hat Tradition in Venedig. Es erscheint durchaus möglich, dass mit Abdellatif­s Kechiches „Mektoub, My Love: Canto Uno“erneut ein Dreistünde­r mit entspreche­nd unwägbaren Aussichten bei der Kinoauswer­tung gewinnt. Der französisc­he Regisseur erzählt die Geschichte eines Sommers und seiner Sehnsuchts- und Liebesvers­trickungen mit so viel eigener Atmosphäre und Unmittelba­rkeit, dass es den Zuschauer fast körperlich mitnimmt. Kechiches Film verfügt mit der Schönheit und Jugend seiner Darsteller – vor allem dem deutlich ins Bild gesetzten Sex-Appeal seiner Schauspiel­erinnen – trotz Länge über gut „vermarktba­re“Aspekte.

Die weitaus radikalere Entscheidu­ng für den Goldenen Löwen, unter dem Jury-Vorsitz der amerikani- Schauspiel­erin Annette Bening durchaus vorstellba­r, wäre der neue Dokumentar­film „Ex Libris – The New York Public Library“des 87-jährigen Regie-Veteranen Frederick Wiseman. Mit 197 Minuten Laufzeit ist auch dies alles andere als ein „leicht zugänglich­er“Film. Für die, die sich der Anstrengun­g stellen, entpuppt sich Wisemans Film aber als eine Hymne auf das Wissen und die menschlich­e Neugier – und damit als würdiger Kandidat für die Auszeichnu­ng. Verglichen mit „Ex Libris“erscheint Ai Weiweis zweistündi­ge Flüchtling­sdoku „Human Flow“mit ihrer humanistis­chen Botschaft und den vielen schönen Bildern geradezu als kommerziel­les Unternehme­n. Sein brandaktue­lles Thema setzt ihn trotzdem auf die Favoritenl­iste.

Darüber hinaus gibt es im diesjährig­en Wettbewerb viele Filme, die die goldene Mitte aus aktuell und Arthouse treffen, ohne den Zuschauer zu sehr zu fordern. „The Insult“etwa thematisie­rt die offeschen nen Wunden der libanesisc­hen PostBürger­kriegsgese­llschaft in einem packenden Filmdrama – mitreißend, spannend und gut gespielt. Oder auch der Gerichtsfi­lm „The Third Murder“des japanische­n Regiemeist­ers Hirokazu Koreeda, der das Sujet Todesstraf­e mit der ungewöhnli­chen Geschichte eines Mörders angeht, der sein Geständnis immer wieder ändert. Im israelisch­en „Foxtrot“wiederum bringt Samuel Maoz die bittere Ironie des Schicksals auf die Leinwand: Ein Vater erhält die Nachricht vom Tod seines Sohns in der Armee. Später zeigt sich, dass es sich um eine Falschmeld­ung handelte. Nicht zuletzt gelingt es dem Australier Warwick Thornton mit seinem westernhaf­ten „Sweet Country“vom rassistisc­hen Erbe des Kontinents zu erzählen und dabei endlich einmal Aborigines und weiße Siedler als Figuren ebenbürtig zu behandeln.

Welche Filme haben sich nun fürs Oscar-Rennen qualifizie­rt? Eine ganze Reihe an Stars kann fortan mit dem Rückenwind ihrer VenedigPre­mieren rechnen: Frances McDormand konnte ihre Favoritenr­olle in „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“unterstrei­chen, ebenso wie Donald Sutherland und Helen Mirren als Senioren auf einem letzten Roadtrip in „Leisure Seeker“oder Judy Dench als Königin Victoria in „Victoria & Abdul“. Und in Paul Schraders „First Reformed“beweist Ethan Hawke als Pfarrer in einer Gewissensk­rise, dass er nicht nur Berufsjuge­ndliche, sondern auch erwachsene Männer spielen kann. Barbara Schweizerh­of, epd

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Foto: Labiennale/dpa Welcher Film verdient den Goldenen Löwen? Zum Kreis der Favoriten in Venedig ge hört das packende Drama „The Insult“aus dem Libanon.

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