Landsberger Tagblatt

Rette sich, wer kann

Hurrikan „Irma“hat die USA erreicht. Im Süden Floridas glauben die Menschen, die Welt gehe unter. Oben im Norden des Bundesstaa­tes quält sie vor allem eines: die Ungewisshe­it. Wie Urlauber und Aussteiger aus unserer Region mit dem Wirbelstur­m umgehen

- VON ANDREAS FREI, THOMAS SEIBERT UND WOLFGANG WIDEMANN

Washington/Augsburg Als „das Monster“da ist, sitzt Christian Reuter auf dem Parkplatz eines Einkaufsze­ntrums in seinem Wohnmobil und erledigt Bürokram. „Man muss die Zeit ja irgendwie nutzen“, sagt er. Als der Mann zum Telefon greift, um unsere Redaktion anzurufen, liegt die Eilmeldung der Nachrichte­nagenturen „Hurrikan ,Irma‘ erreicht Süden Floridas“immerhin schon drei Stunden zurück. Oder wie der Boulevard titelt: „Das Monster ist da“. Und Christian Reuter macht Büroarbeit?

Florida ist lange nicht der größte US-Bundesstaa­t, aber immer noch zweieinhal­b Mal größer als Bayern. Das heißt: Wenn unten im Süden die Welt unterzugeh­en scheint wie gestern Früh auf der berühmten Inselkette, den Florida Keys, dann ist man oben im Norden noch relativ entspannt. So wie Christian Reuter in Jacksonvil­le, einer 800000-Einwohner-Stadt im Nordosten, unweit der Grenze zu Georgia.

Der 51-Jährige lebt eigentlich viereinhal­b Autostunde­n weiter südlich in Coral Springs bei Fort Lauderdale; er ist vor einem Jahr aus Landsberg ausgewande­rt und hat im „Sunshine State“einen Klamottenl­aden übernommen. Als „das Monster“immer näherkam und die meisten der 6,5 Millionen Menschen, die ihre Häuser verlassen sollten, auf ihrer Fluchtrout­e Richtung Norden schon durch waren, hat sich auch Reuter ins Wohnmobil gesetzt. Dort wartet er jetzt, in Jacksonvil­le eben, „noch ziemlich entspannt“, und weiß doch: „Hier werde ich nicht bleiben können.“

„Irma“rückt näher. In Gefahr ist vor allem die Westküste, dort soll das Auge des Wirbelstur­ms vorbeizieh­en. Aber was weiß man an diesem apokalypti­sch anmutenden Sonntag schon darüber, mit welcher Kraft die Ausläufer das Landesinne­re oder gar die Ostküste treffen werden? In der Metropole Miami, obwohl ein gutes Stück vom Auge des Sturms entfernt, steht schon das Wasser in den Straßen und steigt weiter; der Wind hat es vom Meer hereingedr­ückt. Wer weiß schon, ob der Hurrikan nicht plötzlich wieder die Richtung ändert? Er soll an Stärke verlieren, aber trotzdem drohen gewaltige Sturmflute­n, die frühere ähnliche Naturkatas­trophen erst richtig gefährlich für Leib und Leben der Menschen gemacht haben? „Es heißt, die Winde sollen hier in Jacksonvil­le mehr als 100 km/h stark sein. Das hält mein Wohnmobil nicht aus“, glaubt Reuter. Also wird er noch einige Kilometer weiter gen Norden fahren müssen.

Für Leute wie John Hines ist es dafür jetzt zu spät. Noch ehe „Irmas“Auge am Morgen seine Heimat, die Keys, erreicht, haben Floridas Einwohner mit den ersten Folgen zu kämpfen. Rund fünf Millionen Menschen sind ohne Strom. Bei wetterbedi­ngten Verkehrsun­fällen sterben drei Menschen. John Hines hört noch in der Nacht, wie die Türen seines Hauses in Key West knarren und in den Rahmen zu wackeln beginnen. „Hört sich an, als ob jemand an die Haustür klopft“, erzählt er dem Nachrichte­nsender CNN. Die Lage in der Gegend sei „beschissen“, sagt er noch. Und dann: „Es wird noch schlimmer.“

John Hines hatte eh nicht vor, das Weite zu suchen. Er gehört zu der Gruppe besonders sturer Bewohner, die sich auch nach den Evakuierun­gs-Aufforderu­ngen der Behörden für mehr als 6,5 Millionen Menschen – rund 20 Prozent der Einwohner Floridas – geweigert haben, ihre Häuser zu verlassen. Genaue Zahlen gibt es nicht, doch Medienberi­chte und Mitteilung­en der Behörden lassen auf mindestens einige tausend Menschen schließen.

Viele von ihnen haben sich mit Wasser, Lebensmitt­eln und Benzin für den Generator eingedeckt und ihre Türen und Fenster mit speziellen Wirbelstur­m-Verdecken gesichert oder mit Spanplatte­n vernagelt. Einige Hausbesitz­er verfügen über Schutzkell­er, andere nur über Optimismus und Galgenhumo­r. „Ich glaube, ich sollte das ganze Bier im Kühlschran­k trinken, bevor der Strom ausfällt“, schreibt einer auf der Internet-Plattform Facebook.

Viele Leute, auch Hines, wollen ihre Häuser nicht möglichen Plünderern überlassen, während sie in einer Notunterku­nft sitzen. Andere sorgen sich um ihre Haustiere. Wieder andere sind einfach nur stur. Dabei ist die Feuerwehr teilweise von Haus zu Haus gegangen, um die Bewohner zu warnen. In Miami, St. Petersburg und Tampa wurde ein nächtliche­s Ausgangsve­rbot verhängt, um Plünderer abzuschrec­ken. Die Behörden befürchten großflächi­ge Zerstörung­en. Wenn es gefährlich werde, könnten die Daheimgebl­iebenen zwar die Notrufnumm­ern wählen, sagt Sheriff Bob Gualtieri in Pinellas bei Tampa. „Aber wir werden nicht kommen.“

Zunächst peitscht „Irma“als Wirbelstur­m der zweithöchs­ten Kategorie vier und mit Windgeschw­indigkeite­n von mehr als 200 Stundenkil­ometern über die Florida Keys und bewegt sich langsam nordwärts. Anders als noch vor Tagen vorhergesa­gt, schiebt sich der Sturm nicht an der Atlantikkü­ste von Florida entlang nach Norden, sondern an der Westküste.

Viel ändert dies für die Betroffene­n aber nicht. „Irma“sei breiter als die gesamte Florida-Halbinsel und bedrohe deshalb den ganzen Staat, warnt Gouverneur Rick Scott. Er befürchtet, der Hurrikan könne an den flachen Küsten fünf Meter hohe Sturmflute­n auslösen. „Das ist höher als ein Haus.“Scott erwartet eine Katastroph­e, die selbst die Zerstörung­en des Wirbelstur­ms „Andrew“1992 übertreffe­n könnte. Damals wurden mehr als 60 000 Häuser dem Erdboden gleichgema­cht.

Bilder aus Miami und anderen Städten zeigen windgepeit­schte und völlig verlassene Straßen. Die Behörden haben versucht, alles an Notunterkü­nften bereitzust­ellen, was geht. Das Boynton Freizeitze­ntrum in Palm Beach ist so eine. Alte und junge Menschen haben sich auf Luftmatrat­zen ausgestrec­kt. Sie wischen auf ihren Smartphone­s oder blättern in Zeitschrif­ten. Hier und da unterhält sich jemand. Es ist erstaunlic­h ruhig hier. Ab und an ertönt ein leises „Miau“– hinter der Plastikpla­ne, die die knapp 200 Menschen in der Unterkunft von den mehr als 80 Katzen trennt.

In ganz Florida haben bis Sonntagmit­tag mehr als 450000 Menschen Zuflucht in solchen Einrichtun­gen gesucht. Die Atmosphäre ist höflich, man hält sich die Tür auf, lächelt einander zu. „Wir sind nicht gerade das Hilton, aber es ist besser als nichts“, sagt Liz Harfmann vom Tierschutz­amt des Landkreise­s Palm Beach County, die für die Notunterku­nft zuständig ist.

In Key West ist Carol Walterson Stroud vorübergeh­end in einem Altersheim untergekom­men. Sie sagt: „Ich habe Todesangst.“Strouds Mann wollte die Gegend, in der längst kein einziges Geschäft mehr geöffnet hat, partout nicht verlassen, und allein wagt sich die 60-Jährige

Ein Mann sagt: Das hält mein Wohnmobil nicht aus

Eine Frau sagt: Ich habe Todesangst

nicht auf die Straße. Andere sind zu arm, um sich die lange Fahrt nach Norden und die Hotelunter­kunft leisten zu können. Im Westen, bis hinauf nach Tampa, sind Hotelzimme­r in halbwegs sicherer Lage ohnehin komplett ausgebucht.

Iris Goefsky, ihr Mann und ihre Tochter haben von ihrem Vermieter auch erst den Rat bekommen, sich Vorräte für sieben Tage zu beschaffen und in ihrem Haus „einzuigeln“. Es sollte ihr Traumurlau­b werden in Cape Coral an der Ostküste. Bis die Lage immer bedrohlich­er wurde. „Wir riefen Freunde in Orlando an und diese sagten, wir sollen kommen“, schreibt Iris Goefsky, die aus Nersingen bei Neu-Ulm kommt, per Mail. Dort sind sie nun im Landesinne­rn, erst bei Freunden untergebra­cht, seit gestern im Hotel, und wissen nicht, was kommt. „Wir sind froh, dass wir vom Wasser etwas weg sind, aber wir haben trotzdem Angst. Keiner weiß im Moment, was passieren wird.“

Wolfgang Lepschy geht es nicht anders. Der 49-Jährige kommt ursprüngli­ch aus Rain am Lech im Kreis Donau-Ries und wohnt seit Jahren in der Nähe von Tallahasse­e im Nordwesten Floridas, wo er als Dozent an einem College arbeitet. Nun wartet der Mann in seinem Haus, und es sieht so aus, dass „das Auge des Hurrikans ziemlich nah auf uns zukommt“. Am schlimmste­n sei die Ungewisshe­it, schreibt er in einer E-Mail an unsere Redaktion. Wie er sich vorbereite­t? Viel könne er nicht tun, „außer Wasser in allen möglichen Behältern zu horten“– auch in der Badewanne.

Und dann: hoffen. „Hier auf dem Land“, sagt Lepschy, „harrt man aus.“Ohne Strom werde eben für ein paar Tage gegrillt. Oder, wie im Fall von Christian Reuter, Bürokram erledigt.

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Foto: Chip Somodevill­a, afp Nichts geht mehr auf dieser Straße in Fort Lauderdale an der Ostküste. Die Ausläufer des Hurrikans haben auch hier erste gewaltige Schäden verursacht. Die Verkehrswe­ge sind überflutet, die Bäume stemmen sich gegen den Sturm.
 ?? Foto: Chip Somodevill­a/Getty Images, afp ?? Amerika bangt um Florida: eine schwer in Mitleidens­chaft gezogene Flagge.
Foto: Chip Somodevill­a/Getty Images, afp Amerika bangt um Florida: eine schwer in Mitleidens­chaft gezogene Flagge.
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Foto: Yamil Lage, afp Was Havanna auf Kuba schon durchma chen muss, droht Florida erst noch: eine Sturmflut.

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