Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (33)
Aber dann sagte ich es doch. „Ich war ein altmodischer Vater. Das mit den Windeln und dem Wickeln hat meine Frau besorgt.“
Sie nickte. „Immerhin hast du manchmal zugeschaut und aufgepasst. Hast du deinen Kindern gute Nacht gesagt?“Sie sah mich an, ein bisschen beschämt und abweisend, ähnlich wie am Morgen, aber zugleich behaglich, als sei ihr wohl im frischbezogenen Bett.
„Gute Nacht, Irene.“Ich beugte mich über sie und zog die Decke hoch, und sie legte die Arme um meinen Hals, wie vor ein paar Tagen, und wieder rührte mich die zutrauliche Geste, und ich stand auf und ging rasch raus, sonst wären mir, ich weiß nicht, warum, die Tränen gekommen.
So gingen die nächsten Tage dahin. Irene schlief in den Morgen, dann bettete ich sie auf dem Balkon. Manchmal bewältigte sie die Treppe selbst, manchmal trug ich sie. Manchmal bewältigte sie sogar die Treppe vom Balkon an den Strand
und lief bis zu den Felsen am Ende der Bucht, mit Freude am Sand unter den bloßen Füßen und am Wasser um die nackten Waden.
Sie wollte zuerst nicht, ließ mich schließlich aber alleine zu Meredene fahren. Meredene und ich fuhren über eine ausgewaschene und zugewachsene Straße bis zu der Stelle, an der die Straße in den Highway gemündet hatte, umfuhren die Absperrung und erreichten nach einer halben Stunde einen Ort mit einem Supermarkt. Der üppige Einkauf für Meredene und für mich, den ich mit meiner Kreditkarte bezahlte, war wohl mit dem Ethos des Lebens in der Natur nicht vereinbar; Meredene verpflichtete mich zum Stillschweigen gegenüber ihren Leuten und riet mir dazu auch gegenüber Irene. Sie lud ihren Einkaufswagen mit großer Begeisterung und schlechtem Gewissen voll.
Ich hatte kein schlechtes Gewissen. Aber ich fühlte mich fremd in dem Ort zwischen Geschäften, Reklamen, Restaurants, Autos, und im Supermarkt störten mich das helle, kalte Licht, die breiten, leeren Gänge, der Überfluss an Waren. Ich rechnete nach; vor vierzehn Tagen war ich in der Art Gallery Irenes Bild begegnet, vor acht war ich bei Irene angekommen. Mir war, als seien Wochen vergangen.
Manchmal kümmerte ich mich vormittags um Irenes Garten oder wusch Wäsche oder versuchte, kaputte Sachen zu reparieren, eine gebrochene Stufe, einen tropfenden Hahn, das Reserverad des Jeeps. Ich ließ mir dabei Zeit und dachte über die Fortsetzung unserer Geschichte nach. Aber es kam auch vor, dass Irene die Fortsetzung schon vormittags hören wollte und ich improvisieren und strecken, verlangsamen und ausschmücken musste. Dann ließen wir das Mittagessen ausfallen, und ich saß bis in den späten Nachmittag an ihrem Bett auf dem Balkon und erzählte.
Ich erzählte vom Flug über den Atlantik und dass wir beim Blick aus dem Fenster in der Ferne ein anderes Flugzeug sahen, wie einem in der Weite des Meers ein anderes Schiff begegnen kann – ein Gruß aus der fremden Welt, zu der man auf dem Weg ist. In New York mieteten wir uns im ,Waldorf Astoria‘ ein und genossen die Stadt wie reiche Touristen, bis unser Geld knapp wurde. Wir waren auf dem Empire State Building und an der Freiheitsstatue, im Metropolitan-, im Guggenheimund im Frick-Museum, wir liefen im Central Park nach Norden, bis es gefährlich wurde, und noch ein Stück weiter, wir wagten uns nach Harlem und in die Bowery, wir aßen im Café des Artistes und im Russian Tea Room und in der Gramercy Tavern. Irene war nie in New York gewesen, hatte schon lange keine Filme mehr gesehen und ließ sich gerne erzählen, wovon heute jeder aus Filmen oder von Besuchen in der Stadt eine Anschauung hat. In unserem Zimmer im ,Waldorf Astoria‘ standen zwei Betten, und Irene wollte wissen, ob ich oder sie vorgeschlagen hatte, zusammen in einem Bett zu schlafen. Aber sie liebte mich nicht, sie mochte mich nur, und so fand ich, dass die beiden Betten ihre Richtigkeit hatten.
Wie unsere Tage abliefen, wann Irene ruhte und wir aßen und ich erzählte, richtete sich danach, wie es ihr ging. Sie brauchte keine Windeln; das Missgeschick der ersten Nacht nach der Abreise von Gundlach und Schwind wiederholte sich nicht. Aber oft war ihr übel und sie erbrach, was sie gerade gegessen hatte. Ohnehin hatte sie keinen Appetit. Sie lobte meine Spaghetti Carbonara, meinen Risotto mit Pilzen und meine Kartoffeln mit Gulasch, aber nur mein Salat schmeckte ihr wirklich. Das selbstverständliche Gleichmaß unserer gemeinsamen Tage war ein bisschen so, wie ich damals unser gemeinsames Leben in Frankfurt geträumt hatte. Einmal ließ ich mich hinreißen, es Irene zu sagen.
„Ja“, lächelte sie, „aber es ist das Leben zum Tod.“
Von Tag zu Tag wurde es heißer. Der Wind vom Meer blieb aus, und die Luft, die uns sonst als ein Nichts umgibt, umfing uns wie ein warmer Stoff. Die Vögel stellten das Fliegen und das Singen ein, und im Garten verdorrten die Pflanzen. Irene verbot mir zu gießen. „Bald wird das Wasser knapp.“
„Willst du ins untere Haus ziehen?“
„Vielleicht morgen.“Am nächsten Tag sagte sie wieder „vielleicht morgen“, und dann war es im unteren Haus so heiß wie im oberen. Nachts war es sogar heißer; der Stein strahlte die Hitze aus, die er tags gespeichert hatte. Die Nächte brachten keine Kühle.
Ich erzählte ihr vom August in New York, von der feuchten Hitze, die uns wie ein feuchtes, heißes Tuch einhüllte, wenn wir aus einem klimatisierten Gebäude auf die Straße traten. Unser Geld ging zu Ende, und wir suchten Arbeit. Wir zogen auch aus dem ,Waldorf Astoria‘ aus. Das billige Hotel, das wir fanden, lag an einer Straße am Hudson; jeweils zwei Zimmer teilten sich ein Badezimmer, und wenn der Nachbar vergaß, die Tür zu unserem Zimmer, die er während der Benutzung abschloss, nach der Benutzung wieder aufzuschließen, mussten wir an seine Tür klopfen oder, wenn er ausgegangen war, den missmutigen Portier dazu bringen, hochzukommen und aufzuschließen. Wir hatten nur ein Bett.
„Und?“
„Ich schlief auf dem Boden. Es war so heiß, dass ich keine Decke brauchte. Wenn ich nicht schlafen konnte, stieg ich aus dem Fenster, setzte mich auf den Absatz der Feuerleiter und sah auf die laternenhelle Straße und den nachtschwarzen Fluss. Manchmal setztest du dich dazu.“
„Was haben wir geredet?“„Du hattest in Brooklyn eine Stelle als Bedienung und ich eine bei McDonald’s gefunden. Wir erzählten einander von unserer Arbeit. Wusstest du, dass McDonald’s eine eigene Universität hat? The Hamburger University? Wenn ich meine Arbeitserlaubnis bekäme und mich bewährte, stünde mir der Weg an die Universität offen, wurde mir bei der Einstellung versprochen. Ich war schon froh, als ich aus der Küche an die Theke versetzt wurde.“