Die Gladiatoren der Moderne
Open Air Die Band Selig kommt zum Festival Magic Lake an den Ammersee. Es soll sogar schönes Wetter werden
Dießen Nichts geht bei Selig ohne das Akzeptieren bedeutungsschwangerer Begriffe wie „Unsterblich“, „Alles ist nix“oder „Lebenselixier“– aktuelle Songtitel – wenn man in den ureigenen Mikrokosmos dieser Band eintauchen will. Während die Alben aus der ersten Phase des Hamburger Quintetts reichlich schmucklose Namen wie „Selig“, „Hier“oder „Blender“trugen, geht es seit der Wiedervereinigung eine Dekade nach der Trennung um „Und endlich unendlich“„Von Ewigkeit zu Ewigkeit“, „Magma“und aktuell gar ums „Kashmir Karma“.
Zur Erinnerung: 1992 gegründet, war Selig die deutschsprachige Grunge-Antwort auf Nirvana oder Soundgarden, verknüpft mit einer kräftigen, teilweise skurril anmutenden und immer ausgelassenen Portion Hippie-Charme. 1998 trennte sich die Gruppe, die Mitglieder engagierten sich in einigen eher unmotiviert wirkenden und weitgehend unkommerziell bleibenden Projekten, ehe im August 2008 das Comeback in der Originalbesetzung angekündigt wurde.
Mit beachtlichem Erfolg, denn die Formation scheint bei etlichen Fans unvergessen zu sein: Das Comeback-Album „Und endlich unendlich“war das erste der Hanseaten in ihrer Karriere, das es bis in die Top Ten der nationalen Charts schaffte. Auch den zwei nachfolgenden Werken gelang dieser Sprung mühelos in der ersten Woche nach Erscheinen.
„Kashmir Karma“, das siebte Studioalbum, das am 3. November in den Handel kommt, sollte diese Hürde gleichfalls lässig überspringen. Einfach aus dem Grund, weil die bei Selig seit jeher hochgelegte Qualitäts-Messlatte ein weiteres Mal locker genommen worden ist. „Und das, obwohl unsere Musik beständig extremer wird, was ich nur begrüßen kann“, meint Christian Neander, Selig-Mitbegründer und Gitarrist. „Die harten Kompositionen werden härter, die Balladen trauriger. Extreme sind gut in einer immer emotionsloser werdenden Zeit. Nur wer sich Extremen aussetzt und diese in seine Kunst integriert, erreicht seine Hörerschaft umso besser. Manchmal ist dieser Weg schmerzhaft. Lohnen tut er sich auf alle Fälle. Wir sind die Gladiatoren der Moderne, bereit, immer wieder in den Ring der Öffentlichkeit zu steigen, um zu beweisen, dass wir am Ende die Sieger sind. Lachende Sieger, wohlgemerkt.“
Auch dieses Mal hat sich wieder jede Menge getan bei der unsteten Crew, weiß der 49-jährige Neander zu berichten. Unter anderem ist der Fünfer zum Vierer geschrumpft. „Keyboarder Malte Neumann ist bereits im Oktober 2014 ausgestiegen“, sagt Neander. „Entgegen der offiziellen Darstellung ging die Trennung nicht ganz reibungslos vonstatten. Mehr möchte ich dazu nicht erläutern. Höchstens das: Ich persönlich verstehe mich nach wie vor prima mit Malte. So viel zum Thema ’positiver Selig-Spirit’, der uns weiterhin umtreibt. In unserem Weltbild existieren keine Feindschaften.“
Entstanden ist „Kashmir Karma“(benannt übrigens nach einem indischen Gewürz, das vor allem bei Hippie-Köchen hoch im Kurs steht) eher durch einen Zufall. „Unser Sänger Jan Plewka ist seit über 25 Jahren mit einer Schwedin verheiratet“, erzählt der Saitenmann, „die beiden besitzen ein Ferienhaus in der schwedischen Pampa, ungefähr 100 Kilometer nördlich von Göteborg und ungefähr fünf Kilometer vom Meer entfernt. Eine gigantische Landschaft, höchst inspirierend“, schwärmt Neander.
„Jedenfalls sind wir Jungs – ohne unsere Frauen, schließlich ging es um Männer-Urlaub – dorthin gereist, um einfach mal zu schauen, ob in dem ’Projekt Selig’ noch Luft steckt, um uns zu sammeln. Das Unternehmen hätte schieflaufen können“, erzählt Christian Neander. Aber die Band kam in dem Häuschen am 8. November vergangenen Jahres an. Die ganze Nacht wurde ferngeschaut. „Und als irgendwann feststand, dass dieser wahnsinnige Donald Trump US- Präsident werden würde, waren wir zunächst absolut geschockt. Doch am nächsten Morgen fuhren wir mit dem Auto raus auf die Schären. Eiskalter Wind blies uns um die Nase. Machte unseren Kopf frei. In diesem Moment beschlossen wir, etwas gegen unsere Resignation und Frustration zu unternehmen – wir komponierten spontan das Lied ’Wintertag’. Und einigten uns darauf, jetzt erst recht eine Platte einzuspielen, die bedingungslos Frieden, Liebe und Zusammenhalt propagiert.“
Bis Juni dieses Jahres fuhr die „wilde Bande“, wie Neander Selig bezeichnet, noch weitere vier Mal ins schwedische Exil, um dort „Kashmir Karma“voranzubringen. „Letztlich war es die essenzielle Macht der skandinavischen Natur“, meint der Gitarrist beeindruckt, „die unsere neuen Lieder extrem geformt hat. Alles ist rau und archaisch. Und besitzt bei jeglicher Spontanität den Hauch von Unendlichkeit.“
Inzwischen ist das „Abenteuer Schweden“abgeschlossen, „Kashmir Karma“wurde – in Berlin, aber durch einen gebürtigen Schweden – vom Top-Produzent Michael Ilbert (unter anderem für Herbert Grönemeyer oder Katy Perry tätig) in den legendären „Hansa“-Studios, wo bereits U2 und David Bowie arbeiteten, produktionstechnisch in Form gebracht.
„Jetzt geht es wieder los mit Promotion, Konzerten und sonstigem Arbeitsstress“, meint Christian Neander. „Aber mal ganz ehrlich: Wir sind total heiß darauf, der Welt die neuen, ungestümen Selig zu präsentieren.“
Am Samstag, 23. September, stehen die vier Hanseaten ab 22 Uhr als Headliner auf der Bühne des erstmalig in Dießen stattfindenden dreitägigen Magic Lake Festivals. Christian Neander und seine Mitstreiter freuen sich auf dieses Konzert: „Zum einen werden wir zwei oder drei der neuen Lieder vorstellen“, ist er sicher, „zum anderen spielen wir Stücke aus inzwischen 25 Jahren Selig-Dasein. Mit voller Wucht und ohne Rücksicht auf Verluste. Gefangene werden bei uns 2017 keine gemacht.“
Im Internet www. magic lake festival.de