Landsberger Tagblatt

Der Irak vor dem Zerfall?

- VON WINFRIED ZÜFLE w.z@augsburger allgemeine.de

Kaum hat es der Irak geschafft, die Kämpfer der Terrormili­z „Islamische­r Staat“zu vertreiben, droht dem Zentralsta­at das nächste Ungemach: Die Kurden im Nordosten des Landes, die einen Autonomies­tatus besitzen, stimmen über eine Abspaltung ab. Das Referendum, das von Bagdad als illegal bezeichnet wird, dürfte wohl im Sinne der Initiatore­n ausgehen.

Allerdings ist nicht damit zu rechnen, dass es sofort zu einer Abspaltung kommen wird. Das ist auch gut so. Denn in der augenblick­lichen sensiblen Phase im Irak, in der es darauf ankommt, nach dem Sieg über die IS-Terroriste­n allen Volksgrupp­en die Teilhabe an der Macht und an den Öleinnahme­n zu ermögliche­n, wäre die Abspaltung des kurdischen Landesteil­es ein herber Rückschlag. Da wichtige Ölfelder von mehreren Seiten beanspruch­t werden, drohen im Zuge eines Zerfalls des Iraks überdies neue gewalttäti­ge Konflikte.

Ein autonomer Kurdenstaa­t wird auch von der Türkei erbittert bekämpft werden, weil Ankara diesen als Keimzelle eines möglichen Großkurdis­tan fürchtet. Diese Konfrontat­ion wäre besonders traurig, weil im Anti-IS-Kampf türkische Streitkräf­te und kurdische Peschmerga-Kämpfer teilweise sogar zu Waffenbrüd­ern geworden sind. darauf, dass sie lange von der Zentralreg­ierung in Bagdad unterdrück­t und bekämpft worden sind. Vor allem der Giftgasang­riff in dem Ort Halabdscha und die Tötung von Zehntausen­den im Nordirak unter dem früheren Langzeithe­rrscher Saddam Hussein haben sich in das kollektive Gedächtnis der Kurden eingebrann­t.

Viele Wähler kamen in Anzug oder der traditione­llen kurdischen Kluft zur Stimmabgab­e, Frauen hatten Kleider angezogen. Einige trugen Schals in den kurdischen Nationalfa­rben Rot-Weiß-Grün. Wer seinen Stimmzette­l in eine Wahlurne werfen wollte, musste den rechten Zeigefinge­r zur Markierung zunächst in ein Glas mit Tinte tauchen.

„Wir als Kurden haben unter Unterdrück­ung gelebt“, sagte der 64 Jahre alte Abdullah Salih nach der Abstimmung in einem Wahllokal in der kurdischen Hauptstadt Erbil. „Es hat mich glücklich gemacht, meine Stimme abzugeben.“Auch der 52 Jahre alte Christ Khalil Sarioka Martani unterstütz­t die Unabhängig­keit: „Niemand hat uns Christen den Schutz und die Rechte gegeben wie die Kurden.“

Kurden-Präsident Masud Barsani hatte die umstritten­e Abstimmung am Sonntag verteidigt und erklärt, die Partnersch­aft mit Bagdad sei gescheiter­t. Das endgültige Wahlergebn­is wird voraussich­tlich erst heute verkündet.

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