Der Irak vor dem Zerfall?
Kaum hat es der Irak geschafft, die Kämpfer der Terrormiliz „Islamischer Staat“zu vertreiben, droht dem Zentralstaat das nächste Ungemach: Die Kurden im Nordosten des Landes, die einen Autonomiestatus besitzen, stimmen über eine Abspaltung ab. Das Referendum, das von Bagdad als illegal bezeichnet wird, dürfte wohl im Sinne der Initiatoren ausgehen.
Allerdings ist nicht damit zu rechnen, dass es sofort zu einer Abspaltung kommen wird. Das ist auch gut so. Denn in der augenblicklichen sensiblen Phase im Irak, in der es darauf ankommt, nach dem Sieg über die IS-Terroristen allen Volksgruppen die Teilhabe an der Macht und an den Öleinnahmen zu ermöglichen, wäre die Abspaltung des kurdischen Landesteiles ein herber Rückschlag. Da wichtige Ölfelder von mehreren Seiten beansprucht werden, drohen im Zuge eines Zerfalls des Iraks überdies neue gewalttätige Konflikte.
Ein autonomer Kurdenstaat wird auch von der Türkei erbittert bekämpft werden, weil Ankara diesen als Keimzelle eines möglichen Großkurdistan fürchtet. Diese Konfrontation wäre besonders traurig, weil im Anti-IS-Kampf türkische Streitkräfte und kurdische Peschmerga-Kämpfer teilweise sogar zu Waffenbrüdern geworden sind. darauf, dass sie lange von der Zentralregierung in Bagdad unterdrückt und bekämpft worden sind. Vor allem der Giftgasangriff in dem Ort Halabdscha und die Tötung von Zehntausenden im Nordirak unter dem früheren Langzeitherrscher Saddam Hussein haben sich in das kollektive Gedächtnis der Kurden eingebrannt.
Viele Wähler kamen in Anzug oder der traditionellen kurdischen Kluft zur Stimmabgabe, Frauen hatten Kleider angezogen. Einige trugen Schals in den kurdischen Nationalfarben Rot-Weiß-Grün. Wer seinen Stimmzettel in eine Wahlurne werfen wollte, musste den rechten Zeigefinger zur Markierung zunächst in ein Glas mit Tinte tauchen.
„Wir als Kurden haben unter Unterdrückung gelebt“, sagte der 64 Jahre alte Abdullah Salih nach der Abstimmung in einem Wahllokal in der kurdischen Hauptstadt Erbil. „Es hat mich glücklich gemacht, meine Stimme abzugeben.“Auch der 52 Jahre alte Christ Khalil Sarioka Martani unterstützt die Unabhängigkeit: „Niemand hat uns Christen den Schutz und die Rechte gegeben wie die Kurden.“
Kurden-Präsident Masud Barsani hatte die umstrittene Abstimmung am Sonntag verteidigt und erklärt, die Partnerschaft mit Bagdad sei gescheitert. Das endgültige Wahlergebnis wird voraussichtlich erst heute verkündet.