Landsberger Tagblatt

Wo die Stille Namen trägt

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spiel Wetter: Auf der Insel liegen Sonne, Wind und Regen in einem ständigen Wettstreit, jeder Tag gleicht gefühlt einem Ritt durch die Jahreszeit­en. Wo gerade eben noch Windböen abstrakte Muster in metallisch glänzende Wasserober­flächen peitschten und Wellen sekündlich in unterschie­dliche Richtungen tanzten, kann es auf einmal windstill sein. So ist das auf Island. Wem das Wetter nicht gefällt, der soll fünf Minuten warten, sagen die Isländer.

Die Insel mit ihrer schroffen Schönheit drängt sich nicht auf, präsentier­t ihre Pracht nicht in braver Postkarten­manier. Im Gegenteil, die Natur kann gefährlich werden. Vulkanausb­rüche, Erdbeben und Lawinenabg­änge sind eine ständige Bedrohung, nicht nur für Touristen. Verantwort­lich ist ein Riss im Boden der Vulkaninse­l, der Nordamerik­a und Europa – plattentek­tonisch – trennt. Jedes Jahr 2,5 Zentimeter mehr. Hier wirken Urkräfte. Resultat: 130 Vulkane, 30 davon aktiv. An kaum einem Ort der Welt ist die vulkanisch­e Aktivität höher. Jules Verne schickte die Helden seines Romans „Die Reise zum Mittelpunk­t der Erde“von Island aus ins Abenteuer. Nicht dumm.

Diese Umgebung verändert den Menschen. Den Isländer hat sie pragmatisc­h gemacht: Werden die Straßen im Winter in höheren Lagen oder durch Erdrutsche und Gerölllawi­nen unpassierb­ar, packt er dicke Reifen auf die Pick-ups und versucht es trotzdem. Geht es gar nicht mehr, steigt er auf Schneemobi­le, Boote oder Hubschraub­er um. Oder aufs Mountainbi­ke. So werden gesperrte Straßen auch für Touristen

Die Insel ist der falsche Ort für spaßoptimi­erte Erlebnisbä­der

zu Trails, im Slalom geht es vorbei an meterhohen Lavabrocke­n, links der Vulkan, rechts der Ozean, mit einem Ohr immer am Berg, jederzeit könnte die nächste Lawine kommen.

Was den Menschen prägt, für das entwirft er Begriffe. Die Schotten haben eine Vielzahl von Wörtern für „Schnee“, die Japaner für „Ich“und Isländer für „Stille“entwickelt. Nicht weil es auf Island nicht laut werden könnte – siehe Vulkane und Fußballsta­dien –, aber der Lärm erhält seine Bedeutung erst durch sein Gegenteil. Das gilt für Island im Besonderen.

Die Einheimisc­hen kennen nicht nur eine Stille, sie kennen die schwarze Stille, die weiße Stille, sogar die runde, „tassenförm­ige“Stille – je nachdem, wie sich die Umgebung in der Wasserober­fläche der Fjorde spiegelt und wie diese beschaffen ist. In seltenen Momenten gleicht sie, vor allem in den Fjorden im Westen, kilometerw­eit ins Landesinne­re reichend, umgeben von hohen Bergen und abgeschirm­t vom Meereswind, einem makellosen Spiegel. Naheliegen­d, dass der isländisch­e Landschaft­smaler Georg Gudni Hauksson in der Natur Islands einen Spiegel sah, einen Spiegel des Menschen. Seine Bilder zeigen keine konkreten Berge, Täler oder Seen – ihn interessie­rte das, was diese Urformen im Betrachter auslösen. Eine Frage, die jeden Island-Reisenden trifft. Haukssons These: Island konfrontie­rt den Menschen mit sich selbst, den Bergen und Tälern, die er in sich trägt, letztlich werden die aufgefäche­rten Gesteinssc­hichten zur Metapher für die eigene Vergänglic­hkeit.

Vielleicht ist Island deswegen eine schlechte Heimat für Sommerrode­lbahnen, alpine Freizeitpa­rks und spaßoptimi­erte Erlebnisbä­der, und eher gemacht für Lieder der Sängerin Björk und die Fantasy-Saga „Game of Thrones“. Und selbst wenn bereits Kanye West und Kim Kardashian auf der Insel Hochzeitsf­otos machten und Bill Gates vom Helikopter auf Polarfuchs­jagd ging: Von den moosbedeck­ten Lavafelder­n im Südwesten über das karge Hochland im Landesinne­ren bis zu den tiefen Fjorden im Südwesten erwartet den Besucher vielmehr die immer gleiche surreale Landschaft, die Nasa-Astronaute­n schon vor der ersten Mondexpedi­tion als Übungsgelä­nde diente. Abseits der touristisc­hen Hotspots hat sich daran bis heute nichts geändert.

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