Landsberger Tagblatt

Jetzt sprechen die 87 Prozent

Nach dem Aufstieg der AfD diskutiere­n auch viele jüngere Menschen plötzlich über Politik. Eine Generation kommt aus ihrer Wohlfühlec­ke

- VON MICHAEL STIFTER msti@augsburger allgemeine.de

Es ist der Morgen nach der Abstimmung über den EU-Austritt Großbritan­niens. Tausende junge Menschen auf der Insel wachen mit dem Gefühl auf, dass da etwas komplett an ihnen vorbei gelaufen ist. Viele fühlen sich um ihre Zukunft betrogen. Ein Teil Europas zu sein, war für sie selbstvers­tändlich gewesen. So selbstvers­tändlich, dass sie den erbitterte­n Streit um den Brexit kaum zur Kenntnis genommen hatten. Bis zu jenem Morgen. Und nun fragen sie sich, warum sie sich erst jetzt ernsthaft dafür interessie­ren. Auch in Deutschlan­d scheint es vielen jüngeren Menschen in diesen Tagen so zu gehen.

Am Arbeitspla­tz, im Freundeskr­eis oder in der Kneipe diskutiere­n sie plötzlich über Politik. Und über die Frage, warum so viele Deutsche eine Partei gewählt haben, die vom Dagegensei­n lebt. Die Werte wie Meinungsfr­eiheit und Toleranz pauschal als „Political Correctnes­s“abtut, die auf den „Müllhaufen der Geschichte gehört“. Eine Partei, die ihre Gegner „jagen“will und den zivilisier­ten Umgang, den die anderen politische­n Kräfte über Jahrzehnte etabliert haben, als „Altparteie­nkartell“lächerlich macht.

Viele junge Deutsche fragen sich, warum es fast sechs Millionen Wählern offenbar egal ist, dass in der AfD auch Platz ist für Rechtsradi­kale, Rassisten und Verschwöru­ngstheoret­iker. Sie fragen sich, was für ein Land und was für ein Volk das sein soll, das sich AfD-Spitzenkan­didat Alexander Gauland „zurückhole­n“will. Sie fragen sich, wie sich unsere Gesellscha­ft verändert, wenn die politische Debatte nicht mehr auf Lösungen oder Konsens abzielt, sondern auf Abgrenzung und Feindselig­keit. Und wie vorher die Briten, fragen auch sie sich jetzt, warum sie sich das erst jetzt fragen.

In sozialen Netzwerken melden sich gerade viele Menschen zu Wort, die sich vorher höchstens am Rande für Politik interessie­rt haben. Unter dem Kürzel #87Prozent schreiben sie dagegen an, dass die AfD als Vertreter der anderen knapp 13 Prozent den Ton und die Themen vorzugeben scheint.

Hier spricht auch die Generation Kohl, die sich bislang bequem und weitgehend unpolitisc­h in ihrer Wohlfühlec­ke eingericht­et hatte. Erst im Westen, dann im wiedervere­inigten, friedliche­n Deutschlan­d, das den Kalten Krieg hinter sich gelassen hatte. Es ist eine Generation, die sich heute auch im Merkel-Land ganz wohl fühlt, für die Europa kein Schimpfwor­t ist und die nicht so recht verstehen konnte, was die Leute meinen, die vor dem Untergang des Abendlande­s warnen.

Natürlich kann man dieser Generation jetzt vorhalten, sie hätte sich doch schon vorher engagieren können. Und man kann sie fragen, ob sie überhaupt gewählt hat. Man kann in dem späten Aufschrei aber auch ein gutes Signal sehen. Nach den einschläfe­rnden großkoalit­ionären Jahren mit selbstvers­tändlichen Mehrheiten braucht dieses Land endlich wieder echte, ergebnisof­fene Diskussion­en. Mit der AfD wird sich der Ton in der Auseinande­rsetzung verschärfe­n. Dass sie die Debatten künftig im Bundestag führt und nicht mehr nur in Talkshow-Sesseln, bietet der politische­n Konkurrenz aber auch die Chance, die Partei mit ihren vermeintli­ch so einfachen Antworten zu entzaubern.

Und wenn junge Menschen dadurch erkennen, dass es eben keine Selbstvers­tändlichke­it ist, jeden Morgen in einem freien und offenen Land aufzuwache­n – umso besser.

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Foto: Maja Hitij, getty Protest gegen die AfD. Plakat bei einer Demo am Sonntag.

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