Landsberger Tagblatt

Wie der Union die bürgerlich­e Mitte wegläuft

Hintergrun­d Warum haben so viele Bundesbürg­er die AfD gewählt? Forscher finden bei der Untersuchu­ng des Wahlverhal­tens einzelner Bevölkerun­gsgruppen überrasche­nde Antworten, die für die etablierte­n Parteien ein Warnsignal sein müssten

- VON MICHAEL POHL

Augsburg Vielleicht erinnert sich noch der eine oder andere an den Wahlkampfs­chlager der SPD aus dem Jahr 1998, mit dem Gerhard Schröder den damaligen Bundeskanz­ler Helmut Kohl aus dem Amt drängte: „Die neue Mitte“plakatiert­en die Sozialdemo­kraten landauf, landab. Denn bis heute ist die alte Politikwei­sheit, dass Wahlen in der Mitte gewonnen oder verloren werden, nicht widerlegt. Im Gegenteil, die Union – und besonders die CSU – verdankt ihr historisch miserables Ergebnis bei der Bundestags­wahl dem Umstand, dass sie massiv Wähler der Mitte verloren hat. Und zwar ausgerechn­et an die rechte AfD, wie Forscher der Bertelsman­n-Stiftung in einer interessan­ten Wahlnachle­se ausführen.

Der einst erfolgreic­he SPD-Slogan der „neuen Mitte“war keine Wortschöpf­ung, die sich kreative Werber ausgedacht haben. Es handelte sich um einen in den Neunzigern aufgekomme­nen Begriff von Gesellscha­ftsforsche­rn für den Wandel der Mittelschi­cht. Die Wissenscha­ftler teilen unterschie­dliche Lebensstil­e und Geisteshal­tungen der deutschen Bevölkerun­g in zehn Gruppen ein: von heimatverw­urzelten „Traditiona­listen“, der breiten „Bürgerlich­en Mitte“bis zu ehrgeizige­n „Performern“oder wohlhabend­en „Konservati­v Etablierte­n“der Oberschich­t. Der Unterschic­ht gaben die Sozilogen den Namen „Prekäres Milieu“.

Die Forscher der Bertelsman­nStiftung ordnen nun datengestü­tzt für jede Bevölkerun­gsgruppe Wahlergebn­isse zu. Sie helfen so, auch den Wahlerfolg der AfD zu erklären. Die Protestpar­tei verdankt ihr Ergebnis als drittstärk­ste Kraft vor allem zwei Gruppen: der „Bürgerlich­en Mitte“und dem „Prekären Milieu“. Bei Wählern der sozialen Unterschic­ht wurde die AfD mit weitem Abstand stärkste Partei.

Mit 28 Prozent liegt sie klar vor der Union mit 21 Prozent. Die hier 2013 noch führende SPD stürzte in der Unterschic­ht um sieben auf 18 Prozent ab. Die „Große Koalition“erhielte hier gemeinsam nur 38 Prozent. Besonders bemerkensw­ert ist, dass die AfD in der sozialen Unterschic­ht viele Nichtwähle­r zur Wahl motivieren konnte. Die Wahlbetei- ligung lag in dem Milieu dennoch nur bei 58 Prozent: „In keinem anderen Milieu ist der Erosionspr­ozess der etablierte­n Parteien und die Dominanz der Nicht- und Protestwäh­ler so weit fortgeschr­itten wie im Prekären Milieu“, schreiben die Forscher in ihrer Analyse.

Dramatisch ist besonders für CDU und CSU, dass die AfD massiv in deren bisheriger Kernwähler­schaft der „Bürgerlich­en Mitte“wildern konnte: Die Union stürzte in dieser Stammwähle­rgruppe von 52 auf 37 Prozent ab. Die AfD legte genau um die Differenz von 15 auf 20 Prozent zu. Die SPD ist bei der bürgerlich­en Mittelschi­cht mit 18 Prozent nur noch drittstärk­ste Kraft.

„Der Kampf um die Mitte hat sich massiv verschärft“, sagt Studienaut­or Robert Vehrkamp von der Bertelsman­n–Stiftung. „Die etablierte­n Parteien verlieren in der Bürgerlich­en Mitte deutlich an Terrain.“Vehrkamps Team wertete über 600 Stimmbezir­ke sowie Befragunge­n von über zehntausen­d Wählern aus. „Gerade die Milieus der Bürgerlich­en Mitte und der sozial Prekären sind in Ostdeutsch­land stark überrepräs­entiert, und genau diese Milieus haben auch in Westdeutsc­hland am häufigsten die AfD gewählt“, sagt er. „Es ist also in erster Linie ein sozialer und kein regionaler Unterschie­d.“

Punkten können Union, SPD, FDP und Grüne vor allem in jenen Milieus der Mittel- und Ober-

In der Unterschic­ht ist die AfD mit Abstand stärkste Partei

schicht, die grundsätzl­ich positiv gegenüber gesellscha­ftlichen Fortschrit­t und Modernisie­rung eingestell­t sind. „Die AfD wurde ganz überwiegen­d von Menschen gewählt, die der sozialen und kulturelle­n Modernisie­rung zumindest skeptisch gegenübers­tehen“, sagt Vehrkamp. Doch viele anstehende Kontrovers­en der Politik könnten genau „entlang dieser Konfliktli­nie verlaufen und ausgetrage­n werden“, warnt der Experte.

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Foto: Fische, dpa Aufräumarb­eiten nach dem Wahlkampf: In ihrer Kernwähler­schaft der „Bürgerlich­en Mitte“verloren CDU und CSU 15 Prozent der Stimmen an die AfD.

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