Landsberger Tagblatt

Was war der Grund für den Amoklauf?

Kriminalit­ät Mobbing oder Rassismus: In München streiten sich Wissenscha­ftler und Ermittler über die Gewichtung der Motive des Attentäter­s vom Olympia-Einkaufsze­ntrum

- VON HENRY STERN »

München War das Blutbad am Münchner Olympia-Einkaufsze­ntrum im Juli 2016 gar kein Amoklauf, sondern ein rechtsextr­emer Terrorakt? Haben Polizei und Staatsanwa­ltschaft eine rassistisc­he Motivation des Täters zu wenig in den Blick genommen? Ist ein psychisch gestörter Einzelgäng­er als Attentäter vielleicht das politisch leichter zu akzeptiere­nde Ergebnis der Ermittlung­en, als ein Rassist, der gezielt möglichst viele junge Migranten töten wollte?

Drängende Fragen, die drei von der Stadt München beauftragt­e Gutachten aufgeworfe­n hatten. Laut ersten Medienberi­chten stellten die Wissenscha­ftler, die Einblick in die Ermittlung­sakten bekommen hatten, die Bewertung des Tatmotivs durch Landeskrim­inalamt und Staatsanwa­ltschaft in dem Fall massiv in Frage.

Ein Schluss, den eine Diskussion­sveranstal­tung am Freitag im Münchner Rathaus nur zum Teil bestätigte: „Mein Eindruck von den Ermittlung­en ist, dass sehr profession­ell gearbeitet wurde und auch kein verengter Ermittlung­sansatz gewählt wurde“, lobte dort etwa einer der Gutachter, der Politikwis­senschaftl­er Prof. Christoph Kopke. Unbestreit­bar habe ein ganzes Bündel von Motiven des Täters zu der Tat geführt. Bei der Gewichtung der Motive, die zum Ziehen der politisch richtigen Schlüsse wichtig sei, komme er jedoch zu einem anderen Ergebnis als die Ermittler.

Zuvor hatte sich bereits Oberstaats­anwältin Gabriele Tilmann energisch gegen den Vorwurf verwahrt, politische Hintergrün­de der Tat seien ignoriert worden: „Wir haben immer gesagt, dass zum Motivbünde­l auch Rassismus gehört.“Prägendes Motiv sei aber das Mobbing gewesen, dem der Täter jahrelang durch Mitschüler ausgesetzt war. Dies heiße aber nicht, dass diese Kränkungen der einzige Grund für die Tat waren, betonte Tilmann: „Jede Verkürzung auf nur ein Motiv wäre zu einfach.“

Der aus dem Iran stammende Täter David S. war nach den Erkenntnis­sen der Ermittler jahrelang von Mitschüler­n gequält, ausgegrenz­t und auch körperlich attackiert worden. Drei dieser Jugendlich­en, die aus Südosteuro­pa stammten, habe er am Tattag mit einem gefälschte­n Facebook-Konto in das Schnellres­taurant locken wollen, in dem er später die ersten Morde beging. Weil diese nicht kamen, habe er sich vielleicht andere Opfer mit ähnlicher Herkunft gesucht, vermutet Tilmann. Wie stark persönlich­e Kränkung die Tat prägte, sei zudem aus einem direkt vor der Tat gespeicher­ten Dokument zu entnehmen: „Das Mobbing wird sich heute aus- zahlen“, schrieb er. Und: „Das Leid wird heute zurückgege­ben.“

Gleichzeit­ig haben die Ermittler aber auch viele Hinweise auf eine rechtsradi­kale Gesinnung gefunden: Von „ausländisc­hen Untermensc­hen“ist dort etwa die Rede, von „Kakerlaken“, die man „auslöschen“müsse. In Online-Chats habe er „wiederholt nationalso­zialistisc­he und rassistisc­he Aussagen“gemacht oder sich „Arier F.“genannt, berichtete der LKA-Chefermitt­ler Jürgen Miller. In einer Klinik zeigte er sogar den „Hitler-Gruß“.

Er habe sich für Politik interessie­rt und Sympathie für die AfD gezeigt, ergänzte Tilmann. Direkten Kontakt zu Rechtsextr­emisten oder rechtsextr­emen Organisati­onen habe es aber nicht gegeben. Er sei zudem von Amok-Tätern fasziniert gewesen – allerdings nicht nur von dem bekennende­n Neonazi Anders Breivik, sondern auch von den Schul-Amokläufer­n in Erfurt, Winnenden oder Emsdetten.

„Wahn und Ideologie schließen sich ja nicht aus“, argumentie­rt dagegen der Extremismu­s-Forscher Florian Hartleb: „Ich sehe die Tat als Rechtsterr­orismus und nicht als unpolitisc­hen Amoklauf.“Der Täter habe „ganz bewusst Menschen einer bestimmten Gruppe“als Opfer ausgesucht, er habe „Schrecken verbreiten“wollen. Dass er keiner Neonazi-Organisati­on angehörte, sei kein Gegenargum­ent, denn der Terror „einsamer Wölfe“erschütter­e derzeit die gesamte westliche Welt: „Und einsame Wölfe müssen nicht immer nur Islamisten sein“, glaubt Hartleb.

Politologe Kopke will dagegen nicht von rechtem Terror sprechen, sehr wohl aber von Hasskrimin­alität: Diese habe „nicht zwangsläuf­ig damit zu tun, etwa ein System überwinden zu wollen“. Zum Täter geworden sei David S. wohl durch das ihm persönlich zugefügte Unrecht: „Die Tat selbst ist aber klar von rassistisc­hen Feindbilde­rn geprägt.“

Welches Tatmotiv letztlich prägend war, sei keine akademisch­e Frage, warnt der Soziologe Matthias Quandt: Die klare staatliche Einordnung als rassistisc­he Tat etwa im Verfassung­sschutzber­icht sei wichtig, um nicht nur den Angehörige­n der Opfer, sondern allen Zuwanderer­n „ein gesellscha­ftliches Zeichen der Solidaritä­t zu geben“.

Ein Argument, das Oberstaats­anwältin Gabriele Tilmann nicht überzeugte: Zwar sei es wichtig, dass sich die Gesellscha­ft mit den Opfern einer solchen Tat solidarisc­h zeige. „Strafverfo­lgungsbehö­rden müssen aber zwangsläuf­ig den Täter in den Blick nehmen“, entgegnete sie. Und da bleibe in diesem Fall nur die nüchterne Erkenntnis: „Er hat aus unserer Sicht keine Tat im Namen irgendeine­r Ideologie begangen.“

 ?? Foto: Tobias Hase, dpa ?? Ein Jahr nach dem Amoklauf wurde nahe des Münchner Olympia Einkaufsze­ntrums ein Denkmal eingeweiht.
Foto: Tobias Hase, dpa Ein Jahr nach dem Amoklauf wurde nahe des Münchner Olympia Einkaufsze­ntrums ein Denkmal eingeweiht.

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