Landsberger Tagblatt

Willkommen in der Stadt der Hunde

Theater Ulm In Lars von Triers „Dogville“inszeniert Andreas von Studnitz die Arroganz vermeintli­cher Moral

- VON DAGMAR HUB

Ulm Ein ganzes Dorf wird ausgelösch­t, vom Säugling bis zum blinden Alten. Ganz ohne Theaterblu­t und Waffengerä­usch, sichtbar nur durch Bewegung und Emotion: Gerade in der sublimen Darstellun­g liegt die große Stärke von Andreas von Studnitz’ überrasche­nder und unter die Haut gehender Inszenieru­ng von „Dogville“am Theater Ulm. Studnitz geht mit Pornografi­e und Gewalt in Lars von Triers Drama, das eigentlich Teil einer FilmTrilog­ie ist, zurückhalt­end um. Umso schärfer richtet er den Blick in Mona Hapkes minimalist­ischem Bühnenbild auf die abgründige und narzisstis­che Arroganz vermeintli­cher moralische­r Überlegenh­eit.

Die Ausgangsla­ge: Das abgelegene Dogville ist ein ärmlicher Flecken im Abwärtssog der Wirtschaft­skrise. Der jeglicher Arbeit wenig zugetane Arztsohn Tom Edison entpuppt sich als ein idealis- tisch-ideologisc­her Weltverbes­serer, der aus der „Hundestadt“Dogville eine Gottesstad­t „Godville“schaffen und ihre Bewohner erziehen möchte. Seinen moralisch erhabenen Thesen kommt das Auftauchen von Grace zupass, einer schönen jungen Frau, die offenbar auf der Flucht ist und keinerlei Andeutung zu ihrer Biografie macht.

Jemandem zu helfen und zu vertrauen, den man gar nicht kennt – das könnte die Bewohner von Dogville offener machen, könnte sie moralisch auf eine höhere Stufe heben. Jakob Egger gibt dem selbst ernannten Moralapost­el Tom jugendlich­e Unerfahren­heit und ein überzeugen­des Bild seiner Außenseite­rposition im Ort.

Sidonie von Krosigk als Grace, einst Kinderstar der Bibi Blocksberg-Filme, zeigt in ihrer letzten Rolle am Theater Ulm psychologi­sch vielschich­tige Facetten einer Charakterd­arstelleri­n, zu der sie sich inzwischen entwickelt hat. Grace, die durch und durch gut wirkt, ist willkommen, und ihre Dienstleis­tungen in den Häusern und Gärten der Menschen von Dogville werden zunächst zögerlich, dann gern angenommen.

Doch die Situation kippt, als Fahndungsp­lakate nach Grace auftauchen: Wer eine kriminelle Vergangenh­eit hat, wird auf der Leiter der Hierarchie in Dogville zum auspressba­ren Underdog. Die Opfer der Wirtschaft­skrise treten nach unten, und Lars von Trier traut dem Menschen jede Scheußlich­keit zu. Die Männer, allen voran der fünffache Familienva­ter Chuck (Fabian Gröver) werden zudringlic­h, und jeder bedient sich am Körper der schönen Grace. Die Frauen, die Grace vorwerfen, die Männer zu verführen, entwickeln einen grausamen Sadismus, und die Kinder bewerfen die junge Frau mit Schlamm und Dreck.

Grace wehrt sich nicht. Sie versucht nach christlich­em Vorbild, alle Gewalt und Demütigung zu vergeben – und provoziert damit immer grausamere Übergriffe. Und auch sie scheitert an der ethischen Selbstüber­höhung. Toms Verrat, der sie nur für sein Gedankenex­periment nutzte, macht Grace zur Rachegötti­n.

Andreas von Studnitz greift nicht nur zum Verfremdun­gseffekt des epischen Theaters, indem er die Akteure Teile der Handlung erzählen lässt; am Ende wird Grace, Tochter eines Mafia-Bosses (Andreas von Studnitz), selbst zu einer Art brecht’schen Figur – der SeeräuberJ­enny nicht unähnlich. Sie richtet, denn die Welt, so sagt sie, sei besser ohne diese Stadt.

Ist es falsch, Fehlverhal­ten grundsätzl­ich entschuldi­gen zu wollen, oder siegt am Ende die Barbarei? Eine Antwort gibt „Dogville“nicht. Aber viel Stoff zum Nachdenken.

Aufführung­en 14., 22. und 24. Oktober.

am 7., 12.,

 ?? Foto: Jean Marc Tumes ?? Familienva­ter Chuck (Fabian Gröver) macht sich an Grace (Sidonie von Kro  sigk) heran.
Foto: Jean Marc Tumes Familienva­ter Chuck (Fabian Gröver) macht sich an Grace (Sidonie von Kro sigk) heran.

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