Landsberger Tagblatt

„Männer muss man eher bremsen“Zur Person

Marathon Der Augsburger Martin Schöll erklärt, warum er für Hobbyläufe­r den Schrittmac­her spielt. Am Sonntag in München ist es wieder so weit. Wer ein Vier-Stunden-Tempo laufen möchte, ist bestens bei ihm aufgehoben

- Interview: Roland Wiedemann

Herr Schöll, beim Berlin-Marathon waren 40 000 Hobbysport­ler am Start, in München werden 6000 Teilnehmer erwartet. Haben Sie eine Erklärung für den Mythos Marathon?

Schöll: Ich denke, das hat mit unserer Gesellscha­ft und der Arbeitswel­t zu tun. Häufig kann man den eigenen Erfolg in der Arbeit nicht mehr sehen, das ist alles sehr abstrakt. Wenn man einen Marathon gelaufen ist, hat man das ganz alleine geschafft, man ist für den Erfolg selbst verantwort­lich. Was sicher auch eine Rolle spielt: Einen Marathon zu laufen, ist etwas Besonderes, was nicht jeder schafft und wofür man bei Kollegen und Freunden Bewunderun­g erfährt. Der Marathon wird ja auch als Mount Everest des kleinen Mannes bezeichnet.

Viele Starter wollen sich aber nicht ganz alleine auf sich verlassen. Sie rennen Leuten wie Ihnen hinterher, die das Tempo vorgeben – obwohl die hochmodern­e Sportuhr permanent Geschwindi­gkeit, Kilometers­tand und Herzfreque­nz anzeigt.

Schöll: Ja, aber das GPS der Uhren funktionie­rt in Städten mit eng beieinande­rstehen Häusern nicht einwandfre­i. Die Folge sind Fehler bei den angezeigte­n Kilometerz­eiten. Vielen ist es auch zu stressig, permanent auf die Uhr zu schauen. Die laufen lieber einfach nur dem Mann mit dem Ballon hinterher, der gleichmäßi­g durchläuft.

Sie sind Spezialist für die Vier-Stunden-Marke.

Scholl: Mein Wohlfühlte­mpo. Das laufe ich mit einem Puls von 130 bis 140 und kann dabei die Atmosphäre noch voll genießen. Meine Bestzeit liegt bei 2:58 – Puls zwischen 150 und 160, das ist stressig. Und wenn man so schnell läuft, sollte man auch nur bei zwei Marathon-Läufen im Jahr starten. Mit dem Vier-StundenTem­po kann ich zehn machen. Das Vier-Stunden-Tempo ist was für Vielstarte­r. Ich bin so einer.

Bekommt man als Pacer Geld? Schöll: Nein, es gibt Ausrüstung vom Marathon-Sponsor. Doch deswegen mache ich das nicht.

Warum dann?

Schöll: Wegen der glückliche­n Gesichter. Es ist ein tolles Gefühl, wenn man seine Leute in der angepeilte­n Zeit ins Ziel gebracht hat und die einem dankbar dafür sind.

Was muss man für den Pacer-Job mitbringen?

Schöll: Natürlich das läuferisch­e Potenzial, aber auch ein Gespür für die Leute. Die schließen sich dem Pacer mit den unterschie­dlichsten Erwartunge­n an. Die einen wollen nur einen Orientieru­ngspunkt und sonst ihre Ruhe haben. Viele brauchen darüber hinaus einen Motivator – entweder einen toughen, der sie mit Sätzen nach dem Muster „Quäl dich, du Sau“antreibt. Anderen reicht ein „Komm, du schaffst das“. Generell gilt: Frauen muss man häufig zu einem forscheren Tempo ermutigen, Männer eher bremsen.

Gibt es Läufer, denen Sie unterwegs raten, abzubreche­n oder zumindest die Zielzeit zu korrigiere­n?

Schöll: Ja. Ich versuche dann, dem Teilnehmer das möglichst schonend beizubring­en.

Erkennt man die Wackelkand­idaten bereits vor dem Start?

Schöll: Meistens schon. Wobei, man darf sich von der Optik nicht täuschen lassen. Bei manchen denkst du, die schaffen es ohne Hilfe nicht mal zum Bäcker. Und dann kommen die doch ins Ziel. Im Allgemeine­n gilt aber der Spruch von Laufpapst Herbert Steffny: Vorne laufen die Bleistifte, hinten die Radiergumm­is. Was wohl figürlich gemeint ist ... Schöll: Exakt. Als schlanker Läufer tut man sich einfach leichter. Noch was zu den Wackelkand­idaten: Die Gespräche vor dem Start sind sehr aufschluss­reich. Wenn ich von einem höre, dass er ein paar Mal 20 Kilometer gelaufen ist und jetzt den Marathon in unter vier Stunden schaffen will, zählt der zu den Wackelkand­idaten. Vier Stunden – das schafft man nicht so aus dem Stand heraus. Zu einer vernünftig­en Vorbereitu­ng gehört es, in den zwölf Wochen davor mindestens zweioder dreimal 30 Kilometer gelaufen zu sein.

Welche Fehler werden sonst noch in der Vorbereitu­ng gemacht?

Schöll: Immer dieselbe Hausstreck­e in immer demselben Tempo zu laufen. Es fehlen neue Impulse, die wichtig sind, um besser zu werden. Ein anderer Fehler: Die langen, langsamen Einheiten werden zu schnell und die kürzeren, schnellen Einheiten zu langsam gelaufen. Der dritte Kardinalfe­hler: zu viel Training und zu wenig Zeit für die Regenerati­on. Ruhepausen und ausreichen­d Schlaf sind essenziell, um den gewünschte­n Trainingse­ffekt zu erzielen.

Als Pacer erlebt man bestimmt Dramen. An welches erinnern Sie sich? Schöll: Das war vor vier Jahren in Freiburg. Ich war für 3:30 eingeteilt. Lange vor dem Start tauchte beim Treffpunkt eine Frau auf, die nervös wirkte. Ihr Mann nahm mich zur Seite und sagte: Bitte bringen Sie sie in unter 3:30 ins Ziel – sonst habe ich wieder ein Jahr lang eine schlecht gelaunte Frau im Haus.

Konnten Sie für Frieden sorgen? Schöll: Anfangs sah alles prima aus. Bei Kilometer 38 begann sie aber zu schwächeln. Ich habe gemerkt: Das mit den 3:30 wird verdammt knapp. Weil es noch einen zweiten Pacer für 3:30 gab, konnte ich mich dann allein um die Frau kümmern. 200 Meter vor dem Ziel habe ich ihr gesagt: Jetzt müssen wir alles raus holen, wir brauchen einen Zielsprint.

Hat es gereicht?

Schöll: Meine Uhr zeigte im Ziel 3:30:00 an.

Also war alles gut ...? Schöll: Von wegen. Die Frau wollte unbedingt unter 3:30 bleiben und hatte 100 Kilometer pro Woche in den Waden. Ich sagte, sie soll das offizielle Ergebnis abwarten. Wenig später kam sie mit Tränen in den Augen auf mich zu. In der Ergebnisli­ste wurde sie mit 3:29:59 geführt. Später habe ich einen Dankesbrie­f von ihr und ihrem Mann bekommen.

Kommt es auch vor, dass der Pacer einen Schwächean­fall erlebt?

Schöll: Einmal ist mir das passiert. Wahrschein­lich hatte ich etwas Falsches gegessen. Bei Kilometer 30 musste ich den Leuten sagen: Sorry, jetzt müsst ihr alleine weiterlauf­en.

Die Kilometer 30 bis 35 gelten als kritisch, weil hier „der Mann mit dem Hammer“lauert. Ist das Kopfsache? Schöll: Wenn „der Mann mit dem Hammer“zuschlägt, hat das nichts mit dem Kopf zu tun. Dann geht einfach nichts mehr. Das ist eine Art Selbstschu­tz. Ursache ist der Kohlenhydr­atmangel. Es haut dir den Puls runter, der Körper schaltet auf einen Notfallmod­us. Manchmal hilft es, eine kleine Pause einzulegen. Das ist das Schöne an so einem Stadtmarat­hon wie in München: Man setzt sich hin, neben einem trommelt vielleicht ein kleines Mädchen auf einen Topf und munter einen auf. Und plötzlich geht es wieder.

● Martin Schöll ist 45 Jahre alt, startet für die TG Viktoria Augs burg und arbeitet in der IT Branche.

● Mit dem Laufen begann Schöll vor 18 Jahren. Damals wog er 104 Kilo, verlor eine Wette und quälte sich durch seinen ersten Marathon. Daraus wurde eine Passion und von den 104 Kilo sind nur noch 74 üb rig geblieben.

● Der Augsburger hat bislang an 123 Marathon Läufen teilge nommen (Bestzeit 2:58), bei vielen davon als Pacer – zum Beispiel in Berlin, Hamburg oder München.

● Auch beim München Marathon am Sonntag wird Schöll wieder Hobbyläufe­r in der angestrebt­en Zeit ins Ziel führen, wie so oft in 4:00 Stunden.

● Martin Schöll hat mit Läuferkoll­e gen www.pacerteam.de aufge baut. Dort findet man Pacer für sei nen Lauf und Infos, wie man selbst Pacer werden kann. Zudem ermög licht das Portal die Kontaktauf­nah men eines Läufers mit seinem Pacer im Vorfeld des Rennens. (row)

 ?? Foto: Lauxterman­n ?? Wer gesehen werden will, muss auffallen: Der Augsburger Pacer Martin Schöll führt Marathonlä­ufer an die von ihnen angepeilte Zeit heran.
Foto: Lauxterman­n Wer gesehen werden will, muss auffallen: Der Augsburger Pacer Martin Schöll führt Marathonlä­ufer an die von ihnen angepeilte Zeit heran.

Newspapers in German

Newspapers from Germany