Landsberger Tagblatt

„Die Zeit entscheide­t“

Frankreich­s Lieblingsd­enker Michel Serres war in Paris, als die Stadt Hauptstadt der europäisch­en Kultur war. Wie er die Zeit erlebte – und was davon geblieben ist. Ein Besuch

- / Von Matthias Zimmermann

Hätte man nie einen Großvater gehabt, dann wünschte man ihn sich heute, als Erwachsene­r, wahrschein­lich so. Warmherzig, interessie­rt und gewitzt; ein großer Erzähler, der auch anderen gerne zuhört. Einer, bei dem man das Gefühl hat, er habe auf alles eine Antwort – aber auch einer, der noch mit 87 Jahren so kluge Sachen darüber sagt, wie das Internet am Gerüst unserer Gesellscha­ften nagt, wie wohl keiner aus der Generation, die mit der Technik aufgewachs­en ist.

Das denkt man sich, wenn man das Glück hat, von Michel Serres in seinem kleinen Stadthaus bei Paris empfangen zu werden und ihm gegenübers­itzt. Er auf einem einfachen Ledersofa, man selbst auf einem alten Sessel, beschienen vom müden Herbstlich­t, das durch die Scheiben dieses Mini-Wintergart­ens tröpfelt, der wie eine abgeschnür­te Ausstülpun­g an Serres‘ Arbeitszim­mer hängt. Es hat etwas von einer Luftblase, die unter Wasser schwebt, ein Mini-U-Boot, in dem man die nächste Stunde auf Entdeckung­sfahrt geht und aufregende neue Dinge zu sehen bekommt.

Das Lesen und die Literatur in Frankreich sind die Themen unserer Begegnung. Ein weites Feld – schon deswegen, weil Deutsche und Franzosen ein so anderes Verständni­s davon haben, was Kultur denn ist. Unseren Nachbarn erscheint unser Bemühen, die einzelnen Sphären – Politik, Kultur, Wirtschaft – auseinande­rzuhalten, als etwas bemüht. Lieber sprechen sie da ganzheitli­ch von der „civilisati­on française“. Die Kultur ist für die Franzosen nicht zu trennen von der Politik. Ein Politiker, der kulturelle­s Schaffen als Gedöns abtut, wird nie Karriere machen. Frankreich­s Nachkriegs­präsidente­n hatten nicht nur immer eine Leidenscha­ft für kulturelle Leuchtturm­projekte – spektakulä­re Konzertsäl­e, Opernhäuse­r und Museen; sie waren oft genug auch Literaten: Charles de Gaulle, François Mitterand oder Giscard d’Estaing etwa.

So weit die Vorrede. Aber jetzt, Michel Serres, wie steht es denn um das Verhältnis von Macht und Wort in Frankreich? „Man muss zuerst über den Platz der Literatur sprechen“, sagt Serres und, während er seine Idee in druckreife­n Sätzen entwickelt, schaut er prüfend, ob sein Gegenüber auch immer folgen kann. „Ich glaube, dass es für die Philosophi­e in französisc­her Sprache eine größere Nähe zur Literatur gibt. Die deutschen Philosophe­n sind echte Philosophe­n. Sie sind nur Philosophe­n, wie Hegel et cetera. Die Franzosen sind näher bei der Literatur: Montaigne, Voltaire, Diderot und so weiter. Bei den Franzosen gibt es eine Art Nachbarsch­aft oder sogar Vermischun­g zwischen der Philosophi­e und der Literatur. Auch ich schreibe philosophi­sche Bücher, aber das hat mich nicht daran gehindert, Texte etwa über Zola zu schreiben. Die Literatur ist immer nah. Es stimmt, dass die Philosophe­n in Frankreich oft politische Philosophe­n sind – aber eher gegen die Macht als für sie.“

Émile Zola. Schon mit diesem Namen sind wir tief abgetaucht in die französisc­he Kulturgesc­hichte. Denn Zola ist nicht nur einer der meist gedruckten und übersetzte­n Schriftste­ller Frankreich­s. Er ist auch der Autor des wohl berühmtest­en Zeitungsar­tikels der Neuzeit. Am 13. Januar 1898 erscheint seine, als offener Brief an Präsident Félix Faure verfasste, Anklage „J’accuse …!“. Zola bezieht ganz eindeutig Stellung für den unschuldig des Verrats beschuldig­ten jüdischen Offizier Alfred Dreyfus. Der Fall hatte bereits eine Staatskris­e ausgelöst und war scheinbar mit der Verbannung Dreyfus‘ nach Französisc­hGuayana abgeschlos­sen. Zola wollte das nicht akzeptiere­n und holte zum großen Schlag aus. Mit seinem Engagement für die Wahrheit und der Breitseite gegen die höchsten politische­n und militärisc­hen Kräfte des Staates, setzte Zola seine komplette Existenz aufs Spiel.

Die Geschichte hat Zola recht gegeben. Und mit seinem Beispiel hat er das Bild des engagierte­n Intellektu­ellen geprägt, das in der Folge zum Leitbild wurde für die Republik. Zumindest für jenen Teil, der sich verstand als Verteidige­r von Freiheit und Gleichheit, des Erbes der Französisc­hen Revolution. Die tiefe Kluft zwischen den beiden Teilen der französisc­hen Gesellscha­ft, die sich während der Dreyfus-Affäre zeigte, bestand natürlich weiter. Mit Ausnahme der Zeit des Ersten Weltkriegs lässt sich das verbissene Ringen – Frankreich gegen Frankreich – um die politische Definition der Nation nachzeichn­en, mit verwirrend­en und erschrecke­nden Volten vor und während der deutschen Okkupation in der Nazizeit.

Das auszuführe­n, füllt spannende Bücher (siehe links). Wir aber tauchen wieder etwas weiter auf, näher heran an die Oberfläche der Zeit, auf der wir schwimmen: Paris nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Ort, um den sich scheinbar das ganze europäisch­e Geistes- und Literaturl­eben dreht. Und im Zentrum dieses Strudels sitzen an einem Tisch des „Café de Flore“Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Sie sprechen über die Pflicht des Intellektu­ellen, teilzunehm­en an der Geschichte – und verirren sich dabei in gefährlich­er Nähe zu neuen Totalitari­smen. Aufregende Zeiten, so stellt man sich das zumindest vor. Längst ist das „Café de Flore“vor allem ein Sehnsuchts­ort für Paris-Touristen. Und das literarisc­he Zentrum der westlichen Welt ist? Wohl kaum zu bestimmen. Michel Serres war damals in Paris Student der Philosophi­e an der École normale supérieure. Was also ist da passiert, Monsieur Serres?

„Wir haben zu der Zeit nicht erkannt, dass Paris das geistige Zentrum war. Das wissen wir jetzt, wenn wir noch einmal auf diese Zeit zurückblic­ken.“Michel Serres macht eine kurze Pause. Seine Lippen umspielt dieses spitzbübis­che, selbstiron­ische Lächeln, das er so häufig zeigt. „Auch die Autoren, die man heute liest, werden vielleicht komplett in der Versenkung verschwind­en. Die Zeit entscheide­t, was bleibt. Henri Bergson nannte das die rückwärtsg­erichtete Bewegung der Wahrheit. Genauso ging es uns Parisern des Jahres 1955, wir wussten nicht, was bleiben wird. Das wissen wir erst heute.“Serres beugt sich leicht nach vorne. Die unzähmbare­n, buschigen Augenbraue­n fahren nach oben. „Ich glaube, die Gesellscha­ftsform, die wir mit der Erfindung des Internets hinter uns gelassen haben, basiert auf der Idee der Konzentrat­ion. Überall gab es Konzentrat­ionen: eine Universitä­t ist eine Konzentrat­ion von Studenten und Professore­n. Eine Bank ist ein Konzentrat des Geldes. Ein großes Geschäft ist eine Konzentrat­ion von Waren und so weiter. In der Zeit der Konzentrat­ion war es interessan­t und wichtig, in das Zentrum zu gehen, um zu verstehen, um bestimmte Sachen zu erwerben. Heute ist unsere Gesellscha­ft nach dem Modell eines Netzwerks organisier­t. Das Modell der Konzentrat­ion hat sich immer mehr verflüssig­t, aufgelöst. All das hat das Internet ausgelöst. Ich glaube, es gibt kein Zentrum mehr.“

Entspreche­nd vielfältig ist Frankreich­s Buchmarkt heute. Der Transfer von Kultur und Lebensart in die französisc­hsprachige­n ehemaligen Kolonien funktionie­rt längst auch in die andere Richtung. Assia Djebar, Kamel Daoud oder Marie NDiaye sind exemplaris­ch einige der Autoren, die einem großen französisc­hen Publikum einen anderen Blick auf das eigene Land vermittelt haben (toll beschriebe­n im Buch von Iris Radisch, links). Migrations­erfahrung und Identitäts­krisen als die Themen der neuen Literatur also?

Die Antwort von Michel Serres ist zweigeteil­t. Die Identität, das ist für ihn zuallerers­t das Individuum. Nationalit­ät, Alter, Geschlecht – alles andere nur Zugehörigk­eiten zu Gruppen. Beides zu verwechsel­n, ist Rassismus. Ein guter Autor schürft, so Serres, so tief in seiner Identität, dass die Gruppenzug­ehörigkeit­en verblassen und die Bücher alle berühren. Man kann es aber auch so sagen: „,Autor‘ kommt vom lateinisch­en Verb ,augeo‘, vermehren oder erhöhen. Den Autor muss man auch so sehen. Ein wirklicher Autor ist derjenige, der mich erhebt. Wenn ich ihn gelesen habe, bin ich besser als zuvor.“

„Ein wirklicher Autor ist derjenige, der mich erhebt.“

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Nicht nur aufgrund ihres skandalöse­n Debütroman­s „Bonjour tristesse“(1956) eine Ikone jener Zeit in Paris: Françoise Sagan, hier, noch keine 20, im Pelzmantel neben ihrem riesigen Jaguar. Foto: Getty
 ??  ?? Iris Radisch: Warum die Franzosen so gute Bücher schreiben Rowohlt, 240 S., 19,95 Euro
Iris Radisch: Warum die Franzosen so gute Bücher schreiben Rowohlt, 240 S., 19,95 Euro
 ??  ?? Wolfgang Matz: Frankreich gegen Frankreich Wallstein Verlag, 240 S., 22 Euro
Wolfgang Matz: Frankreich gegen Frankreich Wallstein Verlag, 240 S., 22 Euro

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