Zucht und Ordnung Uwe Timm
„Ikarien“ergründet, wie aus einem Idealisten ein Nazi und Rassentheoretiker wurde
„Was trieb diese Leute an? Es sieht doch alles so nett und adrett aus.“
Der Krieg ist aus. Deutschland liegt in Trümmern. Dass Karlchen lebt, hat einen einfachen Grund: Sie haben ihn nicht entdeckt. Sonst hätten die Nazis ihn getötet wie die anderen. Unwertes Leben, eine „Ballastexistenz“, einer, der aus dem Rassenwahn-Schema fällt. Aber Karlchens Eltern haben den geistig Behinderten zwölf Jahre in ihrer Wohnung versteckt. Nachbarn haben geschwiegen. Jetzt springt Karlchen mit den anderen Kindern in Hamburg auf der Straße und freut sich über einen Kaugummi, den ein US-Soldat ihm zusteckt. Uwe Timm beginnt seinen Roman „Ikarien“mit dieser Szene – eine persönliche Kindheitserinnerung des Autors. Ein Gegenbild, ein Licht in den dunklen Ruinen des Todes.
Karlchen hat überlebt. Glück, Zufall, Ausnahme. Doch Timms Roman, der 1945 in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland angesiedelt ist, versucht zu ergründen, wie es dazu kommen konnte, dass Tausende und Abertausende in Kliniken und Anstalten ermordet wurden, weil sie von der arischen „Norm“abwichen.
Wenn man so will, erzählt Uwe Timm eine Familiengeschichte. Denn der Rassentheoretiker Alfred Ploetz, der zum Heer der Wissenschaftler gehörte, die aus dem Labor heraus und mit ihren Theorien das Euthanasie-Vernichtungswerk der Nazis unterfütterten, war der Großvater von Timms Ehefrau. Timm, Jahrgang 1940, rekapituliert den Weg, den dieser Alfred Ploetz zurückgelegt hat – vom Pazifisten und Humanisten, vom Idealisten und Kommunisten zum verbohrten Rasse-Theoretiker, vom Weltverbesserer zum gnadenlosen Auslese-Dogmatiker. Im Roman, der den Spagat zwischen Erzählung und Faktenreferat versucht und dabei vielleicht ein wenig zu oft ins Referieren kippt, baut Timm auf zwei Säulen. Da ist der junge deutschsprachige US-Soldat Michael Hansen, der den Auftrag hat, die Experimente und Arbeiten des (inzwischen gestorbenen) Rassehygienikers Ploetz zu erforschen. Sein wichtigster Zeuge dabei ist der alte Antiquar Wagner, ein ehemaliger Weggefährte von Ploetz und erklärter Nazi-Gegner. In die langen Gespräche zwischen Wagner und Hansen packt Timm alles hinein, was diese Spurensuche ausleuchtet. Er geht zurück zum Ideal der Kommune, wie es Etienne Cabet in seinem 1840 erschienenen Roman „Die Reise nach Ikarien“beschreibt, wirft einen Blick auf die Räterepublik, versucht, die Wurzeln der Nazi-Ideologie freizulegen, verhandelt Schuld und Verblendung, zeigt auf, dass die eugeneti- sche Bewegung viele Länder erfasst hatte, nicht nur Deutschland. „Aber das Denken war damals völlig verstopft von der Idee der Größe und Menge des Volks, auch im Hinblick auf den Erzfeind Frankreich“, sagt Wagner, der Menschenfreund, einmal. Das ist stark.
Doch am stärksten ist Uwe Timm dort, wo er als Romancier glänzt und die Aufarbeitung, die Akte des Antialkoholikers Ploetz hinter das Erzählen zurücktritt („Ihm, der für alles Verstand und Willen verantwortlich machte und stets das Prinzip von Ursache und Wirkung walten sah, fehlte die Vorstellung, es könnte eine Wollust im Selbstvergessen liegen. In der allmählichen Selbstauslöschung.“). Wenn der Leser mit den Augen des jungen Hansen das verwüstete Deutschland bereist, wo sich zwischen Überlebenswillen und Improvisation Opportunismus und Ausblenden von Schuld ausbreiten, wird die Atmosphäre jener Stunde Null plastisch. Michael Hansens Tagebucheinträge, seine Amouren, die aller Geschichtswunden zum Trotz gnadenlos schöne Natur am Ammersee, wo er in einer beschlagnahmten Villa lebt…
Die Meisterschaft Uwe Timms, der sich schon in früheren Büchern intensiv mit Weltkrieg und Stunde Null befasst hat („Am Beispiel meines Bruders“, „Die Entdeckung der Currywurst“), zeigt sich in Passagen wie diesen, da er den jungen Hansen auf Coburg blicken lässt: „Die judenfreie Stadt. Was trieb diese Leute an? Es sieht doch alles so nett und adrett aus. Der gelbbraune Sandstein der Häuser, Blumen vor den Fenstern, das Grau, zuweilen ins Dunkelgrün spielend, der Schieferdächer. Aber vielleicht ist es eben das, diese Nettigkeit, der eine Geducktheit entspringt, etwas Uneingelöstes, Selbstgerechtes, den Hass suchendes.“Timms Roman ist ein Plädoyer für das Individuum, gegen das Kollektivistische. Skeptisch begegnet er Utopien, denen das Prinzip wichtiger wird als das menschliche Maß. Gegen die Perfektion setzt Timm Zweifel, Vielfalt, Gewissen, Freiheit. Zu den mörderischen Umtrieben der Nazis findet er Sätze, die nachhallen, schreibt von der „Lust, der tiefen Lust der Macht, sich für die eigene Sterblichkeit durch das Töten anderer zu rächen“.
Mit der Figur des alten Wagner, ein bescheidener Intellektueller, den eigenes Denken und Empfinden gegenüber Verbrechen und Pathos imprägnieren, zeigt Timm, welchen Weg man auch hätte nehmen können. Der junge US-Soldat Hansen und seine Kameraden sehen Verdrängung und Beschönigungen als Nährboden für den Wiederaufbau des geschlagenen Landes. „George hatte recht, die Schuldigen waren die überwältigende Mehrheit. Die Gerechten nur eine Handvoll, in der Sprache der Bibel, darunter dieser Alte, der sich in einen Bücherkeller zurückgezogen hatte.“
In einem Geniestreich lässt Timm seinen Roman enden. Eine Party im Hause der Familie Ploetz. Es gibt Bowle – angemacht mit dem Alkohol, in den die Präparate des Zuchtforschers eingelegt waren. Das Gift, es wirkt weiter. Michael Schreiner