Botschaft aus Brüssel
Letzte Worte. Man stelle sich vor, man könnte noch einmal etwas öffentlich verkünden, einmal noch etwas sagen, auf Leben und Tod. Was wäre das? Im Falle von Professor Alois Erhart ist es ein Wunsch, eine Vision: „Die Europäische Union muss eine Hauptstadt bauen, muss sich eine neue, eine geplante, eine ideale Hauptstadt schenken“, fordert er vor den Kollegen im Think-Tank „New Pact for Europe“. Und dann nennt er den Ort für dieses Projekt und Fassungslosigkeit macht sich breit. Auschwitz! Die neue Hauptstadt als „ewiges Fanal für die künftige Politik in Europa“.
Der da seine letzten Worte spricht im Roman „Die Hauptstadt“, ist ein emeritierter Professor für Volkswirtschaft. Der all das geschrieben hat, ein glühender Verfechter des Europagedankens: der Österreicher Robert Menasse, Romancier, Essayist, Brüssel-Kenner. Als im Mai die Europäische Union den 60. Jahrestag der Römischen Verträge feierte, hielt er eine Ansprache im Parlament, ähnlich der seines Romanhelden Erhart, in der er die Überwindung der Nationalstaaten forderte. So weit also zur Botschaft dieses Romans, der einzigartig ist. „Der erste EU-Roman“nämlich!
Wie sieht ein EU-Roman aus? Kompliziert? Ein wenig, fast überlastet nämlich durch die Vielzahl der Erzählstränge, von denen nicht alle notwendig erscheinen für das, was Menasse eigentlich erzählen will. Eher dröge? Auf keinen Fall! Es rast gleich mal ein Schwein durch die Straßen von Brüssel, touchiert die Aufmerksamkeit der Protagonisten, erweckt sie durch die Begegnung gleichsam für den Roman zum Leben. Die Griechin Fenia Xenopoulou, Beamtin in der Generaldirektion Kultur, sucht nach einem Knallerprojekt, um ihre Karriere voranzutreiben: Mit einem Festakt zum Jubiläum soll das miese Image der EU-Kommission aufgebügelt wer- den. Ihr Mitarbeiter Martin Susemann, Österreicher, depressive Verstimmung, liefert ihr die passende Idee dazu: Man lade die letzten Überlebenden von Auschwitz ein, sozusagen als Zeugen der europäischen Einigungsidee, die daraus entstanden ist. „Nie wieder – das ist Europa! Wir sind die Moral der Geschichte!“Derweil Professor Erhard im Think-Tank sich vor der versammelten Elite der Mut- und Ideenlosen wähnt. Und David de Vriend seine letzte Bleibe in einem Altersheim bezieht, sich gegen das Vergessen stemmt… und im Übrigen genau einer von denen ist, nach dem die Kommission suchen wird: einer der letzten Überlebenden des Konzentrationslagers.
Der Roman ist so international besetzt wie die Kommission: Ränkespieler und Strippenzieher aus ganz Europa, aber auch einen polnischen Auftragskiller und den Enkel eines belgischen Widerstandkämpfers lässt Menasse auftreten, erzählt deren Lebens- und Familiengeschichten. Und so entsteht viel mehr als eben nur der „erste EU-Roman“, mehr als nur ein mit satirischem Blick gezeichnetes Bild des Brüsseler Beamtenapparats und seinen Funktionsmechanismen, sondern ein vielstimmiger europäischer Roman, in dem Menasse Gegenwart wie auch Geschichte spiegelt.
„Wenn man das Unbegreifliche erlebt, wo man gar nicht erwartet, alles zu verstehen – wie heiter ist dann das Leben“, schreibt Robert Menasse. Sage einer, er verstehe die Europäische Union und ihre Wirkungsweise in all ihren Verästelungen. Ein „EU-Roman“kann daher all dies sein: brillant geschrieben, klug, ernst, berührend und tatsächlich auch unterhaltsam und heiter. Zwecks Imagegewinn kann man der Kommission nur mehr Romane wie diesen wünschen. Damit kann man Staat machen – eventuell am Montag auch den Deutschen Buchpreis gewinnen. Stefanie Wirsching
Robert Menasse Der erste EU-Roman? Mehr als das