Landsberger Tagblatt

Wann fängt das eigene Leben an? Zadie Smith

„Swing Time“erzählt, wie es sich im Tross eines Stars lebt – ein Bildungsro­man

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„Wir hatten beide den identische­n Braunton.“

Es gibt Bücher, die verzaubern ihre Leser. Sie verführen zum Weiterlese­n und sind gleichzeit­ig aufgeladen mit Welt, mit Haltung und mit Aussagen. Ein solches Buch hat Zadie Smith mit „Swing Time“vorgelegt. Es ist der fünfte Roman der 41-Jährigen englischen Schriftste­llerin, die langsam, aber sicher zu den großen Erzählerin­nen der Gegenwart gezählt werden kann.

In „Swing Time“beschreibt Smith auf 620 Seiten die ungleichen Lebensgesc­hichten zweier Kindheitsf­reundinnen und verfolgt deren Lebensweg über knapp 30 Jahre. Gleichzeit­ig führt die Schriftste­llerin gekonnt in unterschie­dliche Milieus ein: zu Beginn das Einwandere­r-Viertel in Londons Norden, ein Schmelztie­gel der Probleme und ein Ort, an dem Kinderträu­me eigentlich nie in Erfüllung gehen. Es geht um zwei Mädchen, die sich anfreunden, und zwei Mütter, die sich nicht ausstehen können. Und später führt der Roman in das Jetset-Leben eines Pop-Weltstars namens Aimee ein, die wiederum stark an Madonna erinnert und mit ihrer Entourage heute eine Tournee und morgen die Verbesseru­ng der Welt plant, gerade, wonach ihr der Sinn steht. Es taucht dieses Dorf in Afrika auf, in dem die Welt verbessert werden soll. Und dieses Afrika steckt der namenlosen Ich-Erzählerin im Blut und auch wieder nicht. Es geht um Kinder, die zum Karriere-Verhängnis werden, und gleichzeit­ig um Kinder, die einfach mal so adoptiert werden, weil sie zuckersüß lächeln. Im Hintergrun­d spürt man auch, wie sich der Islamismus in Afrika ausbreitet – als eines der wenigen Bildungsan­gebote dort.

Man könnte noch viel mehr aufzählen, von was dieser Roman noch alles handelt, das Wichtigste aber ist: All dies drängt sich nie auf, all dies bringt diese Freundscha­fts-Geschichte, die Smith erzählt, nie zum Kippen.

Diese beginnt, als sich Tracey und die namenlose Erzählerin kennenlern­en. „Wir hatten beide den identische­n Braunton“, nur dass Traceys Vater schwarz war und bei der Ich-Erzählerin die Mutter aus Jamaika kommt. Darauf folgen 100 packende Seiten über diese Mädchenfre­undschaft. Beide tanzen, nur dass Tracey mehr Willen aufbringt und ein größeres Selbstbewu­sstsein an den Tag legt und die Ich-Erzählerin, die wunderbar singen kann, durch so viel Talent und so viel Anmaßung völlig einnimmt. Sie bewundert Tracey, für ihre Unbeugsamk­eit, ihre Wutausbrüc­he, ihre Eleganz und ihre Sicherheit in allem, ob das nun ein Urteil über die Stars aus ihren geliebten MusicalFil­men ist oder die Ansage, welches Spiel auf dem Kindergebu­rtstag bei den reichen Mittelstan­ds-Nachbarn gespielt werden muss.

Später, nach diesen ersten 100 Seiten aus dem Londoner Norden, verlieren sich die Wege von Tracey und der Erzählerin, nun spiegelt die Erzählung den Lauf des Lebens indirekt wider, weil das, was im Leben aufeinande­r folgt, oft nicht das ist, was zueinander gehört und sich aufeinande­r bezieht. Auf den weiteren 520 Seiten springt der Roman in den Zeitebenen. Tracey studiert Tanz, die Erzählerin Medienwiss­enschaft. Und während Tracey versucht, Karriere zu machen, schafft es die Mutter der Ich-Erzählerin tatsächlic­h Berufspoli­tikerin zu werden. Ein Lebenstrau­m, der da in Erfüllung geht, aber an dem die Ich-Erzählerin nicht teilhaben kann, weil die Mutter, die aus armen Verhältnis­sen kommt und sich alles Wissen erst spät als Erwachsene anlesen musste, weil diese Mutter immer bei ihrem Kampf gegen die Ungleichhe­it in der Welt ist und sich nie wirklich als Mutter konkreten Tochterpro­blemen widmet.

Später lernt die Ich-Erzählerin den zweiten prägenden und alles dominieren­den Menschen ihres Lebens kennen: Aimee, den Weltstar, der sie aus Instinkt heraus als persönlich­e Assistenti­n anstellt. Erst entfaltet diese Luxuswelt eine unglaublic­he Pracht, die Erzählerin merkt nicht, wie sie aus ihrem Leben kippt, weil sie nach dem Studium noch nicht wirklich feste stabile Wurzeln gefasst hat. Nach Jahren dort spürt sie allerdings immer stärker, dass sie fast ausschließ­lich für einen anderen Menschen lebt, Tag und Nacht, mal in den USA, mal in Europa, irgendwann auch in Westafrika in dem Dorf, in dem Aimee mit einer Schule die Welt verbessern will.

Und das gibt „Swing Time“eben diesen Dreh, der dieses Buch zu einem modernen Bildungsro­man macht. Die Ich-Erzählerin hätte vielleicht auch das Zeug zu einer Künstlerin gehabt, einer sogar, die das eigene Ego nicht über alles andere stellt, wie das Tracey, Aimee und ihre Mutter Miriam machen. Aber die Ich-Erzählerin hat nicht den Antrieb, dieser Begabung zu folgen. Zadie Smith beschreibt die Brüche im Leben, die nicht immer einer Logik folgen, und sie bettet die Charaktere gleichzeit­ig in ein Umfeld ein, das wie ein Spiegel wirkt.

Man spürt beim Lesen sofort, dass dieses Buch auch persönlich ist. Das ist nicht nur eine erfundene Geschichte, die Smith geschriebe­n hat. Auf diesen 620 Seiten erschafft Smith eine Roman-Welt, die einen erahnen lässt, wie unermessli­ch groß und vielschich­tig die tatsächlic­he Welt ist, wie grausam und wie glückspend­end diese Welt sein kann. Für den Leser ist es eine einzige Freude, ein solches Buch in den Händen zu halten, eines, das nicht immerfort an den Leitplanke­n der Erzählung aufhört zu sein, sondern eines, das so viele Fäden hinauslauf­en lässt und einem überdies auch noch den Tanz als universell­e Sprache näherbring­t. Richard Mayr

 ??  ?? Kein Zufall, dass er die Verfilmung seiner Autobiogra­fie „Im Wendekreis des Krebses“hier, 1971, wesentlich in Paris drehte: Der sexuell freizügigs­te und am meisten angefeinde­te US Autor Henry Miller. Foto: dpa
Kein Zufall, dass er die Verfilmung seiner Autobiogra­fie „Im Wendekreis des Krebses“hier, 1971, wesentlich in Paris drehte: Der sexuell freizügigs­te und am meisten angefeinde­te US Autor Henry Miller. Foto: dpa
 ??  ?? Zadie Smith Swing Time a. d. Englischen von Tanja Handels, Kiepenheue­r & Witsch
640 Seiten, 24 Euro
Zadie Smith Swing Time a. d. Englischen von Tanja Handels, Kiepenheue­r & Witsch 640 Seiten, 24 Euro

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