Landsberger Tagblatt

„Wie seltsam es doch war, überhaupt zu leben.“

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Nicht nur sein „Warten auf Godot“wurde in Paris uraufgefüh­rt, er verbrachte ohnehin weite Teile seines Lebens hier: Der habichtköp­fige Ire Samuel Beckett im Jahr 1966 plaudernd mit Schauspiel­erinnen. graben, verliebt sich der junge Cem im Ort, Öngören, in eine rothaarige Frau, die doppelt so alt ist wie er – eine Schauspiel­erin, die jeden Abend in einem Theaterzel­t in der Garnisonss­tadt auftritt. Die kommunisti­sche Truppe spielt dort auch die Legende von Rostam und Sohrab. Auch Meister Mahmut war einmal in diesem Zelt. Cem, 17, verbringt eine Nacht mit der rothaarige­n Schauspiel­erin – und er flieht aus Öngören, nachdem ihm in einem Moment der Unachtsamk­eit ein Eimer mit Gestein in den Brunnensch­acht fällt, wo Mahmut arbeitet. Danach kein Lebenszeic­hen mehr von unten. „Ich trat noch einen Schritt näher an den Brunnen, doch hatte ich Angst hinabzusch­auen. Als würde ich blind davon werden.“Ödipus hatte sich geblendet, als er erkannte, was er getan hatte.

Cem lebt bei seiner Mutter in Istanbul, studiert, er gründet schließlic­h eine immer erfolgreic­her werdende Firma, heiratet, doch die Ehe bleibt kinderlos. Die Zeit vergeht, Cem trifft seinen verschwund­enen Vater wieder. In all den Jahren lebt Cem mit seiner Schuld – er ist überzeugt, dass er den Brunnenbau­er auf dem Gewissen hat. Cem verdrängt – und er entwickelt ein obsessives Interesse an der Geschichte von König Ödipus und, nach einem Besuch in Teheran, an der „Schahname“und dem Motiv des Vaters, der unwissentl­ich seinen Sohn tötet. „Insgesamt gesehen führte ich ein gewöhnlich­es, eher überdurchs­chnittlich erfolgreic­hes Leben. Dir gelingt es also wirklich, so zu tun, als ob nichts wäre, sagte ich mir manchmal.“

Doch Jahrzehnte nach dem Unfall am Brunnen kehrt Cem 2015 nach Öngören zurück, weil seine Firma, die er „Sohrab“genannt hat, dort Wohnungen baut. Den Ort erkennt er kaum wieder. Und doch gibt es dort Menschen, die seine Vergangenh­eit kennen. Meister Mahmut, erfährt Cem, hatte damals wirklich Wasser gefunden, er grub noch mehrere Brunnen, sie verehrten ihn wie einen Heiligen. Dann bekommt Cem eine Nachricht, in der jemand behauptet: Ich bin dein Sohn… Die rothaarige Frau, inzwischen über 60, tritt auf. Sie kannte Cems Vater, den marxistisc­hen Apotheker. Dort, wo alles begann, an Meister Mahmuts altem Brunnensch­acht, längst überwucher­t von einer stillgeleg­ten Textilfabr­ik, kommt es zum Augenblick der Wahrheit und zum Showdown. Michael Schreiner Ha Jin: Der Unruhestif­ter a. d. Englischen v. Susanne Hornfeck, Arche, 256 Seiten, 22 Euro Foto: Getty

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