Stille Brunnen sind tief Orhan Pamuk
Ödipus in Istanbul: Meisterhaft spielt der Nobelpreisträger mit dem Schicksal
Orhan Pamuk: Die rothaarige Frau a. d. Türkischen von Gerhard Meier, Hanser, 272 Seiten, 22 Euro
Man nennt ja eine Geschichte auch deswegen Legende, weil sie einem selber zustoßen wird.“Gegen Ende dieses Romans, im dritten Teil, pocht dem Leser das Herz. Das Erzähltempo hat angezogen, das Schicksal beschleunigt sich zu einer Macht, und wir hängen an den Lippen jener rothaarigen Frau, die die Schlüsselfigur in einer Geschichte um Väter und Söhne ist und uns die Augen öffnet. Leben und Legende verschwimmen. Es hieße, den Spannungsbogen des Buches zu zerstören, würde man hier verraten, wer in Orhan Pamuks neuem Roman „Die rothaarige Frau“überlebt und wen die schicksalhafte Vorbestimmung einholt.
Die Legende von Ödipus, der zum Mörder seines Vaters und zum Mann der eigenen Mutter wird, sickert fast unbemerkt in diesen kunstvoll komponierten neuen Roman von Orhan Pamuk. Ödipus ist aber nur der eine Pol. Der Gegenpol: Das persische Epos „Schahname“, in dem von einem Vater, Rostam, erzählt wird, der auf unglückselige Weise seinen eigenen Sohn Sohrab tötet. Wie Orhan Pamuk diese Mythen zum inneren Gerüst seines Romans macht, ist bewundernswert. Schauplatz des Romans ist Istanbul, die wuchernde Stadt. Wie zuletzt in seinem wunderbaren Roman „Diese Fremdheit in mir“erzählt Pamuk seine Familien- und Liebesgeschichte wieder vor dem Hintergrund der rasanten Veränderungen in den vergangenen Jahrzehnten, die Istanbul zu einer unersättlichen urbanen Krake gemacht haben. Bauboom, Spekulation, rasantes Wachstum – die Stadt hat sich Dörfer, Land und wilde Siedlungen im Umkreis vieler Kilometer einverleibt. Das Tempo der Modernisierung hat das Leben der Menschen radikal verändert. Dass Mythen machtvoller sind als Fortschritt, steht auf einem anderen Blatt.
Wasser ist der Stoff, der aus Brachland Zukunft macht. Von Hand einen Brunnen zu graben, wie das in den 1980er Jahren noch üblich war, ist eine langwierige Sache. Es kostet nicht nur Kraft und Geduld – vor allem darf man den Glauben daran nicht verlieren, an der Stelle der Wahl tatsächlich auf Wasser zu stoßen. Es kann Wochen dauern, nur mit Spaten und Hacke und einem Eimer für den Aushub zu arbeiten. Exerzitien der Wiederholung, ein Kreislauf von Hoffnung, Zähigkeit und Erschöpfung. Harte Gesteinsschichten bremsen aus, der Schacht muss immer wieder mit Beton verschalt werden, es geht nur mühsam in die Tiefe, ein Kampf Meter um Meter. Zweifel untergraben die Moral, es wird immer gefährlicher, aber Aufgeben geht nicht, irgendwann muss Wasser kommen…
Orhan Pamuk verlangt dem Leser zunächst die Geduld und Aufmerksamkeit eines Brunnenbauers ab. Über hundert Seiten entschleunigt der Nobelpreisträger seine Geschichte von Cem, der durch Zufall Lehrling des erfahrenen Brunnenbauers Mahmut wird, den er nur „Meister“nennt und der für ihn zu einer Vaterfigur wird. Cems wirklicher Vater, ein Kommunist, in der Türkei verfolgt und gefoltert, hat die Familie und seine Apotheke verlassen. Während Cem und Meister Mahmut im Auftrag eines Unternehmers zusammen auf einer kahlen Ebene vor Istanbul nach Wasser