Landsberger Tagblatt

„Wir alle wissen, dass es riskant ist, Kritik zu üben.“

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logie und leben tatsächlic­h in eigenen Wohngemein­schaften. Diese basieren auf einem traditione­llen System, das den Hijras auch heute noch Schutz bietet. Ich bin mit Mitglieder­n einer dieser Gemeinscha­ften in der Altstadt von Delhi befreundet. Was das Leben auf einem Friedhof betrifft: Es gibt hunderte, vermutlich sogar tausende Menschen, die wirklich dort zwischen Gräbern leben. In meinem Buch baut sich Anjum sogar ein kleines Gästehaus auf dem Friedhof und klaut den Strom aus der benachbart­en Leichenhal­le eines Krankenhau­ses.

Anjum nennt dieses Gästehaus „Jannat“, das Urdu-Wort für „Paradies“. Auch die fiktive Hijra-Wohngemein­schaft heißt so. Diese Orte wirken wie Zufluchtss­tätten in einer Welt, die aus den Fugen gerät.

Roy: Vielleicht sind sie das auch tatsächlic­h. Wenn die Spezies Mensch so weitermach­t, mit Klimawande­l, Kriegen und Nationalis­mus, brauchen wir möglicherw­eise solche Plätze.

US-Präsident Trump leugnet den Klimawande­l. Ähnelt sein Nationalis­mus jenem der indischen Regierung? Roy: Nein. Trump ist ein Außenseite­r, wohingegen der indische Premier Modi ein Insider ist. Modi und sein propagiert­er Hindu-Nationalis­mus durchdring­en die komplette indische Gesellscha­ft, auch die Medien. Viele Mitglieder der Regierungs­partei gehören der Organisati­on RSS an, einer nationalis­tischen Vereinigun­g, die ganz offen sagt: Die Moslems Indiens sind die Juden Deutschlan­ds. Wer nicht Hindu ist, hat nach RSS-Ansicht nichts in Indien zu suchen. Die indischen Mos- lems würden diese Leute am liebsten nach Kaschmir oder Pakistan abschieben. Ungerechti­gkeit ist allgegenwä­rtig, und das traditione­lle indische Kastensyst­em sorgt für noch mehr Ungerechti­gkeit: Es ist das schrecklic­hste Diskrimini­erungsmode­ll, das man sich vorstellen kann. Aber noch immer halten sich fast alle Inder daran: Nur etwa fünf Prozent der Bevölkerun­g heiraten jemanden aus einer anderen Kaste.

Das Indien, das Sie schildern, deckt sich kaum mit dem positiven Image des Landes. Bei Indien denkt man an Gandhi, Yoga und Toleranz … Wie erklären Sie sich, dass sich unser Bild so stark von der Realität unterschei­det? Roy: Es gibt den Hang, Indien zu romantisie­ren. Das wird von offizielle­r Seite natürlich gerne gesehen und unterstütz­t. Die safrangelb­e Hindufarbe soll ein investitio­nsfreundli­ches, modernes Klima transporti­eren, immer neue Märkte erschließe­n, Umsätze garantiere­n und wird entspreche­nd vermarktet. Dass das Safrangelb aber auch für Lynchmobs steht, die an der Tagesordnu­ng sind, wird hingegen oft vergessen.

Sie beschreibe­n in Ihrem Roman auch Menschen, die sich gegen die Regierungs­politik und die damit verbundene Gewalt wehren. Welchen Einfluss und welche Wirkung hat dieses Engagement?

Roy: Man kann nicht von einer großen organisier­ten Widerstand­sbewegung sprechen. Was es allerdings gibt, sind zahlreiche kleine Gruppen, die protestier­en. Oft wehren sie sich auch gegen Umweltzers­törung und Zwangsumsi­edlungen, etwa durch internatio­nale Minenkonze­rne. Tatsächlic­h haben schon einige der ärmsten Menschen der Welt einige der reichsten internatio­nalen Konzerne gestoppt. Doch das sind Einzelfäll­e. Meistens gewinnen die Stärkeren. In zunehmende­r Weise bewaffnen sich die Bewegungen – an unzähligen Orten Indiens herrscht sprichwört­lich Krieg, nicht nur in Kaschmir. Grundsätzl­ich stelle ich fest, dass immer mehr Menschen davon überzeugt sind, dass es nicht nur den einen Weg, den ungebremst­en Kapitalism­us, gibt. Sie spüren, dass es nicht in Ordnung ist, dass die Armen für den Fortschrit­t den Preis zahlen müssen.

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