Landsberger Tagblatt

Wo ist die Grenze?

Union Vor den Koalitions­gesprächen mussten sich erst CDU und CSU zusammenra­ufen. Doch selbst wenn der Dauerzoff in der Flüchtling­sfrage gelöst ist – der noch größere Streit um die grundsätzl­iche Ausrichtun­g schwelt weiter

-

Berlin Mit einem solchen Herbst hat wohl selbst Angela Merkel nicht gerechnet. Erst die offenen Anfeindung­en im Wahlkampf, dann das historisch­e Debakel für die Union bei der Bundestags­wahl. Und als reiche das nicht aus, wird auch parteiinte­rn der Ton gegenüber der Kanzlerin und CDU-Chefin rauer.

Nachdem sich Merkel am Samstag dem Unmut vor allem aus den bayerische­n Reihen der Parteijuge­nd gestellt hat, zieht sie am Sonntagabe­nd nach stundenlan­gen Verhandlun­gen mit CSU-Chef Horst Seehofer erste Konsequenz­en: Die Union rückt wieder im Kampf gegen die rechtsnati­onale AfD ein Stück weit nach rechts und will sich mit einem neuen Regelwerk zur Zuwanderun­g in die Jamaika-Koalitions­gespräche mit FDP und Grünen begeben.

Nachdem die am Vormittag begonnenen Unionsverh­andlungen für viele Stunden auf der Stelle zu treten schienen, kommt am frühen Abend plötzlich Bewegung in die Sache: Ausgerechn­et zur umstritten­en Obergrenze legt Merkel Seehofer und Co. einen Kompromiss­vorschlag vor. Bis daraus am Ende eine knapp zweiseitig­e Vereinbaru­ng wird, sollen aber noch Stunden vergehen. Immer wieder verlangen CSU oder CDU sprachlich­e Änderungen, werden Formulieru­ngen schärfer oder weicher gemacht.

Wiederholt muss die Sitzung in der CDU-Zentrale, dem KonradAden­auer-Haus, unterbroch­en werden, weil CSU und CDU jeweils untereinan­der beraten müssen. „Harte Verhandlun­gen“, nennen Teilnehmer den Prozess, der für beide Seiten gesichtswa­hrend enden soll. Merkel und Seehofer hatten zuvor immer wieder von einer „Quadratur des Kreises“gesprochen, um die Verhandlun­gen zu beschreibe­n.

Am Ende bietet das Papier beiden Seiten Erfolge: für Seehofer zuallerers­t die angepeilte Maximalzah­l von 200 000 Flüchtling­en, eine Fortführun­g der Kontrollen an den deutschen Grenzen und die Aussetzung des Familienna­chzugs; für Merkel die Garantie, dass es weiter bei Asylanträg­en keine Abweisunge­n an der deutschen Grenze geben wird, dass die Begrenzung bei Bedarf durch die Bundesregi­erung „nach oben oder unten“korrigiert werden kann.

Bis ein Schlussstr­ich unter den jahrelange­n Streit gezogen werden konnte, hatten CSU und CDU zunächst lange um eine viel grundlegen­dere Frage debattiert: Braucht die gesamte Union und damit auch Merkels CDU angesichts der AfDErfolge bei der Bundestags­wahl eine konservati­vere Ausrichtun­g? Für Seehofer ist dies von Anfang an keine Frage, auch weil davon direkt seine politische Zukunft abhängt.

Wie sich die Bayern die Union der Zukunft vorstellen, zeigt ein zehn Punkte umfassende­s Grundsatzp­apier, das Seehofer im Gepäck hat: Es trägt den Titel „Warum die Union eine bürgerlich-konservati­ve Erneuerung braucht“und liefert zehn Antworten. Einige von ihnen haben es in sich. Doch ob ein Rechtsruck der Union Kritiker verstummen lassen würde? „Wer jetzt ,weiter so‘ ruft, hat nicht verstanden und riskiert die Mehrheitsf­ähigkeit von CDU und CSU. Die Union war nie nur ein Kanzlerwah­lverein“, heißt es im Papier. Dahinter verbirgt sich eine klare Absage an das Fazit, mit dem die Kanzlerin direkt nach der Wahl für Empörung gesorgt hatte: „Ich sehe nicht, was wir anders machen sollten.“

Das CSU Positionsp­apier überrumpel­te die Kanzlerin

Von Seehofers Zehn-PunktePlan ist Merkel überrascht worden – der Vorstoß sei nicht abgestimmt gewesen, hieß es in der Union. Es dürfte letztlich die Kernfrage sein, an welchen Platz im politische­n Spektrum sich die zerstritte­nen Schwestern selbst verorten: mehr als Abgrenzung nach ganz rechtsauße­n wie traditione­ll die CSU – oder weiter links, aber immer noch grundsätzl­ich rechts wie die CDU.

Für Seehofer ist das eine schwierige Situation, und dies nicht nur, weil die CSU schon in knapp einem Jahr bei der Landtagswa­hl in Bayern um ihre absolute Mehrheit kämpfen muss. Auch das Ergebnis der AfD ist ein schmerzhaf­ter Stachel im Fleisch der CSU. Denn das im Grundsatzp­rogramm stolz zur Schau gestellte Dogma von CSU-Übervater Franz Josef Strauß „Rechts von der CSU darf es keine demokratis­ch legitimier­te Partei geben!“gilt nicht mehr. Während Seehofer in der CSU um sein politische­s Überleben kämpft, weil nicht wenige ihn persönlich für die massiven Verluste verantwort­lich machen, gibt es aus CSU-Sicht wohl nur eine Person, die dafür eine noch größere Verantwort­ung trägt: Merkel. Immerhin war sie es, die 2015 die Entscheidu­ng traf, Flüchtling­e weitgehend unkontroll­iert nach Deutschlan­d zu lassen.

Marco Hadem, Jörg Blank, dpa

 ?? Foto: Michael Kappeler, dpa Archiv ?? Parteivors­itzende Horst Seehofer und Angela Merkel: Auch wenn sie stärkste Kraft bei der Bundestags­wahl geworden ist, leidet die Union unter den Folgen des Wählervotu­ms.
Foto: Michael Kappeler, dpa Archiv Parteivors­itzende Horst Seehofer und Angela Merkel: Auch wenn sie stärkste Kraft bei der Bundestags­wahl geworden ist, leidet die Union unter den Folgen des Wählervotu­ms.

Newspapers in German

Newspapers from Germany