Landsberger Tagblatt

Und alle schauen hin

Verkehr Ein Mann liegt sterbend im Straßengra­ben, daneben steht jemand und filmt seinen Todeskampf. Ein unglaublic­her Fall, passiert auf der A8. Warum macht ein Mensch so etwas? Und können härtere Strafen Schaulusti­ge wirklich vom Gaffen abhalten?

- VON STEPHANIE SARTOR

Burgau Grauer Himmel über grauem Asphalt. Ein trister Septemberm­orgen. Dienstag. Kurz nach neun. Der Verkehr rauscht und brummt und röhrt. Wie eine metallene Lawine wälzen sich die unzähligen Fahrzeuge über die Autobahn. Drei Motorräder sind auf der linken der drei Spuren unterwegs, überholen Autos und Lastwagen. Die Männer aus der Nähe von Göppingen sind auf dem Weg nach Österreich. Dort werden sie nie ankommen.

Es geschieht binnen Sekunden. Auf trockener Straße. Bei normaler Geschwindi­gkeit. Der erste der drei Biker lenkt nach rechts, er will zurück auf die mittlere Spur. Der Mann gerät ins Schlingern, sein Motorrad wird nach rechts geschleude­rt. Er stürzt, prallt gegen die Leitplanke. Und stirbt wenig später an der Unfallstel­le.

Es sind tragische Bilder, die Sanitäter, Ärzte und Polizisten an jenem 5. September auf der A8 nahe Burgau verkraften müssen. Und es sind Bilder, die offenbar auch eine perfide Anziehungs­kraft haben. Denn während Ersthelfer im Straßensta­ub neben der Leitplanke knien, darauf warten, dass der Notarzt kommt, versuchen, dem Schwerverl­etzten zu helfen und seine Begleiter zu beruhigen, steht da ein Mann. Nur wenige Meter von dem Ort entfernt, an dem ein Mensch gerade um sein Leben kämpft. In seiner Hand hält der Gaffer sein Smartphone, filmt das grauenhaft­e Szenario.

Werner Schedel, Leiter der Günzburger Autobahnpo­lizei, war an jenem Tag im Dienst. Als der Notruf über Funk kam, setzte er sich sofort ins Auto und fuhr los. Schedel, ein freundlich­er Mann mit grauen Haaren und einer schwarzen Brille mit blauen Bügeln, ist heute, ein paar Wochen nach dem Unfall, noch immer ratlos. „Ich habe keine Ahnung, warum man so etwas Schrecklic­hes sehen will“, sagt er. Der Polizeihau­ptkommissa­r sitzt in seinem Büro, an den Wänden hängt moderne Kunst, auf dem Tisch vor ihm steht eine grüne Glasschale mit zwei Äpfeln darin. Wenn Schedel von dem Unfall erzählt, schüttelt er hin und wieder fassungslo­s den Kopf. „Der Mann, der die Aufnahmen gemacht hat, hätte fragen können, ob die Polizei schon verständig­t ist. Er hätte eine Decke besorgen, für den Notarzt Platz schaffen oder Teile des zerstörten Motorrads wegräumen können“, sagt Schedel.

All das hat der 50-Jährige aber nicht getan. Er wurde deshalb wegen unterlasse­ner Hilfeleist­ung und der Verletzung des höchstpers­önlichen Lebensbere­ichs durch Bildaufnah­men angezeigt. Andere Autofahrer, die wegen des Unfalls ebenfalls im Stau standen, hatten den Mann beobachtet und konnten ihn so gut beschreibe­n, dass ihn die Polizei schnell aufspürte. Er sei schon wieder im Führerhaus seines Lastwagens gesessen und ziemlich kleinlaut gewesen, sagt Schedel. „Er konnte nicht erklären, warum er das gemacht hat.“

Warum schaut man hin, wenn ein Mensch schwer verletzt im Straßengra­ben liegt? Warum dreht man sich nicht weg und versucht, all die Traurigkei­t, das Blut, den Tod auszublend­en? Eine, die sich mit solchen Fragen beschäftig­t, ist Verkehrsps­ychologin Andrea Häußler vom Tüv Süd. Das Gaffen sei etwas Reflexhaft­es, meint sie. „Die Menschen interessie­ren sich, zeigen Neugierde. Irgendwann war das auch einmal wichtig, um zu überleben.“Hinzu komme, dass sich die Menschen an schlimme Bilder, die man auch täglich im Fernsehen sehe, immer mehr gewöhnten. „Man stumpft ein Stück weit ab. Die Distanz geht verloren.“

Und noch etwas ist eine Ursache für das schamlose Gaffen – und ein trauriges Phänomen unserer Zeit: zunehmende Empathielo­sigkeit. Ein gewisses Egal-Gefühl anderen gegenüber, die Unfähigkei­t, sich in denjenigen hineinzuve­rsetzen, der da gerade blutüberst­römt am Boden liegt. Die völlige Gleichgült­igkeit der Familie gegenüber, die in den nächsten Minuten den Anruf bekommen wird, dass der Ehemann, Bruder, Sohn, Vater tot ist. „Man denkt immer weniger in sozialen Beziehunge­n“, sagt Häußler.

Dass es einigen Menschen völlig egal ist, wie es anderen geht, zeigen nicht nur die vielen Gaffer, die tödliche Unfälle filmen. Erst vor kurzem geriet eine Geschichte in die Schlagzeil­en, die mindestens ebenso sprachlos macht: Ein Mann war in

„Der Mann hätte eine Decke besorgen, für den Notarzt Platz schaffen oder Teile des zerstörten Motorrads wegräumen können.“

Polizeihau­ptkommissa­r Werner Schedel

einer Bankfilial­e in Essen zusammenge­brochen. Statt sich um den älteren Herrn, der bewusstlos am Boden lag, zu kümmern, stiegen die Bankkunden einfach über den Sterbenden hinweg, ließen ihn hilflos liegen, hoben in aller Ruhe Geld ab. „Es macht sich in unserer Gesellscha­ft immer mehr Gleichgült­igkeit breit“, sagt die Psychologi­n.

Und dann ist da noch das Smartphone. Unser mobiles Gedächtnis, ohne das wir kaum mehr Haus verlassen. Unser Kalender, unser allzeitber­eiter Draht in die Welt – und eben unsere immer verfügbare Kamera. „Wir sind es mittlerwei­le gewohnt, alles zu teilen und ins Internet zu stellen“, sagt Psychologi­n Häußler. „Man fotografie­rt alles, sei es das Abendessen oder eben ein schlimmer Unfall. Gehen Sie 30 Jahre zurück, da hatte keiner dauernd einen Fotoappara­t dabei.“

Als Werner Schedel 1979 bei der Polizei anfing, hatte noch niemand ein Mobiltelef­on, geschweige denn eines mit hochauflös­ender Kamera bei sich. „Es hat sich seither etwas verändert. Den Neugierige­n, den Schaulusti­gen, gab es schon immer. Aber die Leute waren nicht so sensations­süchtig wie heute, wo man auf dem Smartphone seine Trophäen sammelt“, sagt der Chef der Günzburger Autobahnpo­lizei und blickt aus dem Fenster, wo sich Bäume mit ersten herbstgelb­en Blättern im Wind wiegen.

Schales Mittagslic­ht dringt in sein Büro mit dem grauen Fußboden und den hellbraune­n Möbeln. Neben seiner Computer-Tastatur liegt ein Blatt Papier. Schedel braucht es in letzter Zeit so oft, dass er es gar nicht mehr wegräumt. Ganz oben zu lesen ist: § 201a Verletzung des höchstpers­önlichen Lebensbere­iches durch Bildaufnah­men. Schedel erklärt, was es damit auf sich hat: Wer eine Bildaufnah­me, die die Hilflosigk­eit einer anderen Person zur Schau stellt, unbefugt herstellt oder überträgt, macht sich strafbar. Es droht eine Geldstrafe – oder eine Freiheitss­trafe bis zu zwei Jahren. Der Paragraf wurde im Jahr 2015 erweitert.

Mittlerwei­le gibt es noch mehr Verschärfu­ngen. Seit Ende Mai gilt es als Straftat, bei Unglücksfä­llen vorsätzlic­h Einsatzkrä­fte zu behindern. Das Gesetz sieht eine Geldstrafe oder maximal ein Jahr Haft vor. Gefängniss­trafen sind bisher selten – doch die Polizisten bitten Gaffer vehement zur Kasse. Im Juli etwa mussten auf der A3 gleich 20 Schaulusti­ge noch vor Ort bezahlen. Sie hatten an einer Unfallstel­le Fotos und Videos gemacht und waren dabei den Rettungskr­äften im Weg gestanden. Künftig werden auch Rettungsga­ssen-Blockierer härter bestraft. Bisher wurden 20 Euro fällig, nun sind es mindestens 200.

Aber bringt das alles überhaupt etwas? Polizist Schedel ist sich da nicht so sicher. Zwar gehe von einer Gesetzesve­rschärfung ein gewisses Signal aus – letztlich müsse man aber an das Gewissen und die Moral der Menschen appelliere­n. Und das nicht nur, weil Schedel das Gaffen aus ethischer Sicht für verwerflic­h hält, sondern auch, weil der Griff zum Handy und das Einschalte­n der Kamera während der Fahrt ein grodas ßes Sicherheit­srisiko darstellt. „Durch diese Ablenkung kommt es zu enorm vielen Unfällen. Das ist absolut gefährlich“, sagt er. Immer wieder offenbart sich den Polizisten das gleiche Bild: Während es sich auf der einen Seite staut, rauschen auf der Gegenfahrb­ahn weiter Autos und Lastwagen vorbei – und oft filmen die Fahrer den Unfall mit dem Smartphone. Aber auch Menschen, die im Stau stehen, sind mitunter leichtsinn­ig. Erst vor kurzem hat Schedel einen Mann gesehen, der sich auf den Betonteile­r in der Mitte

„Die Menschen interessie­ren sich, zeigen Neugierde. Irgendwann war das auch einmal wichtig, um zu überleben.“

Psychologi­n Andrea Häußler

der Autobahn gestellt hatte, um einen besseren Blick auf die Unfallstel­le zu erhaschen – ein falscher Schritt, ein kleiner Stolperer, und er wäre auf die Fahrbahn gestürzt.

Dass sich viele Gaffer von den bisherigen Regelungen kaum beeindruck­en lassen, zeigt auch ein Fall aus der Nähe von Heidenheim, knapp zwei Wochen nach dem tragischen Motorradun­fall auf der A8. Es ist ein Sonntagnac­hmittag. Kurz nach 15 Uhr. Ein junger Motorradfa­hrer ist mit seiner grünen Kawasaki auf der B19 unterwegs. Er überholt mehrere Autos. Als der Mann wieder auf die rechte Fahrbahn einscheren will, kommt er ins Schleudern, prallt gegen die rechte Leitplanke, schlittert daran mehrere Meter entlang, bevor er gegen eine Straßenlat­erne kracht. Die Verletzung­en sind so schwer, dass er an der Unfallstel­le stirbt.

Ein junger Radfahrer wird Zeuge des Unfalls. Bevor die Rettungskr­äfte eintreffen, filmt er unbeeindru­ckt den schwer verletzten Motorradfa­hrer, der nur wenige Meter vor ihm auf dem Boden liegt und um sein Leben kämpft. Und später, als Notarzt und Sanitäter sich um den Mann kümmern, steht der Gaffer ihnen bei ihrer Arbeit auch noch im Weg.

Der Fall erregte bundesweit Aufsehen. In den sozialen Medien reagierten die Menschen fassungslo­s, erschütter­t, zornig. Möglicherw­eise war es auch dieser enorme öffentlich­e Druck, der den Gaffer dazu bewog, sich bei der Polizei zu melden und zuzugeben, dass er Aufnahmen des sterbenden Mannes gemacht hatte. Gegen den 27-Jährigen laufen nun strafrecht­liche Ermittlung­en. Sein Handy wurde sichergest­ellt – jetzt muss geklärt werden, ob die Aufnahmen noch an andere weitergege­ben wurden.

Auch das Handy des Gaffers, der den Motorradun­fall auf der A8 bei Burgau gefilmt hat, wurde kassiert. Das Video, das jetzt bei der Staatsanwa­ltschaft liegt, musste vom Gerät gelöscht werden. Es war nur eine kurze Sequenz, wie lange genau, weiß Polizeihau­ptkommissa­r Schedel nicht. Er hat sie sich nicht angeschaut. „Ich will das nicht sehen“, sagt er. Die Eindrücke, die man als Polizist bei Unfällen zwangsweis­e hat, seien schlimm genug. „Man baut eine Verbindung zu den Verletzten oder Getöteten auf. Man kommt ihnen auf emotionale­r Schiene ganz nah“, sagt Schedel, nimmt seine Brille ab und legt sie vor sich auf den Schreibtis­ch. Wieder schüttelt er den Kopf, schaut aus dem Fenster. Was bei den Einsatzkrä­ften zurückblei­bt, sind Erinnerung­en. In Schedels Fall die an einen Dienstag. Einen grauen Septemberm­orgen. Kurz nach neun.

 ?? Foto: Christian Kirstges ?? Ein Motorradfa­hrer verunglück­te vor wenigen Wochen auf der A8 bei Burgau. Für die Ersthelfer ein schwierige­r Einsatz. Erst recht, weil ein Gaffer den Sterbenden mit dem Handy filmte.
Foto: Christian Kirstges Ein Motorradfa­hrer verunglück­te vor wenigen Wochen auf der A8 bei Burgau. Für die Ersthelfer ein schwierige­r Einsatz. Erst recht, weil ein Gaffer den Sterbenden mit dem Handy filmte.

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