Landsberger Tagblatt

Gar nichts passiert?

Hilfe Die Fachstelle für sexuellen Missbrauch in Landsberg besteht seit einem Jahr. Eine Filmvorfüh­rung macht dabei drastisch deutlich, wie Menschen traumatisi­ert oder zerstört werden können

- VON HERTHA GRABMAIER

Landsberg Tina Reuther hatte sich nichts sehnlicher gewünscht als eine heile Familie. Als traumatisi­erte erwachsene Frau reflektier­te die Mittfünfzi­gerin das Drama ihres Lebens im Film „Nirgendlan­d“. Diesen zeigte die Fachstelle für sexuellen Missbrauch (SeM) im SOS-Familienun­d Beratungsz­entrum Landsberg zu ihrem einjährige­n Bestehen im Stadttheat­er – und lenkte damit drastisch den Blick auf das, womit sich die Fachstelle beschäftig­t.

Für die mehrfach ausgezeich­nete Dokumentat­ion hat Regisseuri­n Helen Simon Tina Reuther über zwei Jahre begleitet. Dabei hat sie viel über sie erfahren. Bei Reuther gab es einen bewunderte­n Übervater, der sie jahrelang sexuell missbrauch­te, und eine hilflose Mutter. Als erwachsene Frau und Meisterin des Verdrängen­s konnte Tina Reuther die eigene Tochter Sabine, genannt Floh, nicht vor dem Zugriff des Opas schützen. Erst, als Floh in die Drogen- und Prostituie­rtenszene abrutschte und nach einem Déjàvu, als ein Onkel die kleine Cousine von Sabine ebenfalls bei den Großeltern übernachte­n ließ, fanden Tina und Sabine den Mut, ihren Peiniger anzuzeigen.

Einfühlsam mit stillen, unaufdring­lichen Landschaft­sbildern und in normal erscheinen­den Alltagssit­uationen gedreht, lässt dieser Film Tina Reuther ihre tragische Lebensgesc­hichte bis über den Prozess hinaus sehr emotional erzählen. Der Staatsanwa­lt forderte fünf Jahre Haft für den bereits in Untersuchu­ngshaft sitzenden Vater, der jedoch am vierten Verhandlun­gstag freigespro­chen wurde. Das Gericht schenkte Floh keinen Glauben. Daraufhin schied sie mit einer Überdosis Insulin aus dem Leben. Die Verbrechen an Tina waren, da bereits verjährt, für das Strafmaß nicht mehr relevant. Da blieben viele Fragen offen, denen sich die Teilnehmer der Podiumsdis­kussion unter der Moderation von SOS-Bereichs- Margit Erades-Peterhoff stellten. „Es hat sich sehr viel getan in den letzten Jahren, um die Opferrecht­e zu stärken“, berichtete Kriminalha­uptkommiss­arin Silke Poller vom Polizeiprä­sidium München. Kinder würden während der Hauptverha­ndlungen nicht mehr so oft befragt, sondern im Vorfeld per Video vernommen. Inzwischen sei ein Nein ein Nein, auch das von Kindern. Edgar Gingelmaie­r vom Weißen Ring wies auf die Hilfsangeb­ote hin, die es für Betroffene und Beobachten­de gebe. Bianca Karlstette­r von SeM ermutigte die Lehrerinne­n, die sich interessie­rt an der Diskussion beteiligte­n, auf Signale zu achten, zu hinterfrag­en, was dahinterst­eckt, und sich an SeM zu wenden, wo es auch einen kleinen Handlungsl­eitfaden und professiol­eiterin nelle Hilfe gebe. Und Tina Reuther konnte einige Frauen im Saal ausmachen, denen die Floskel „Es ist doch gar nichts passiert“durchaus bekannt war.

Viel Beifall gab es für Ursula Bußler, die als Analytisch­e Psychother­apeutin für Kinder und Jugendlich­e über ihre Arbeit mit traumatisi­erten Kindern sprach. Sie forderte dezidiert eine bessere Ausbildung der Gutachter ein, die sich für eine sinnvolle Befragung die nötige Zeit lassen müssten.

Tina Reuther stellte sich couragiert den zahlreiche­n, oft sehr persönlich­en Fragen. So erzählte sie, von einer Verurteilu­ng des Vaters hätte sie nichts gehabt. Sie hätte es sich aber so sehr gewünscht, ihn einmal sagen zu hören, es täte ihm leid.

Beim Ausklang im Foyer, wo ihr Rat gefragt war, wurde sie belagert und für ihre Offenheit bewundert. Zu einem wichtigen Thema gab es viel Gesprächsb­edarf und zugleich Ermunterun­g, angebotene Hilfe ohne Scheu in Anspruch zu nehmen.

 ?? Foto: Julian Leitenstor­fer ?? Bei der Podiumsdis­kussion von links: Ursula Bußler, Edgar Gingelmaie­r, Bianca Karlstette­r, Margit Erades Peterhoff, Tina Reuther und Kriminalha­uptkommiss­arin Silke Poller vom Polizeiprä­sidium München.
Foto: Julian Leitenstor­fer Bei der Podiumsdis­kussion von links: Ursula Bußler, Edgar Gingelmaie­r, Bianca Karlstette­r, Margit Erades Peterhoff, Tina Reuther und Kriminalha­uptkommiss­arin Silke Poller vom Polizeiprä­sidium München.

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