Landsberger Tagblatt

Theodor Storm: Der Schimmelre­iter (34)

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Er ist interessie­rt, fleißig, begabt. Er liebt Elke, und mit Geduld und Geschick wird sie seine Frau. Hauke Haien aus Nordfries land stehen Erfolg, Glück und gesellscha­ftlicher Verdienst zur Seite. Doch dann wendet sich das Schicksal gegen ihn… Projekt Gutenberg

Hauke drehte sich im Sattel: was gab das dort? Seine Augen wurden groß. „Herr Gott! Ein Bruch! Ein Bruch im alten Deich!“

„Euere Schuld, Deichgraf!“schrie eine Stimme aus dem Haufen. „Euere Schuld! Nehmt’s mit vor Gottes Thron!“

Haukes zornrotes Antlitz war totenbleic­h geworden; der Mond, der es beschien, konnte es nicht bleicher machen; seine Arme hingen schlaff, er wußte kaum, daß er den Zügel hielt. Aber auch das war nur ein Augenblick; schon richtete er sich auf, ein hartes Stöhnen brach aus seinem Munde, dann wandte er stumm sein Pferd, und der Schimmel schnob und raste ostwärts auf dem Deich mit ihm dahin. Des Reiters Augen flogen scharf nach allen Seiten; in seinem Kopfe wühlten die Gedanken: Was hatte er für Schuld vor Gottes Thron zu tragen? Der Durchstich des neuen Deichs – vielleicht, sie hätten’s fertiggebr­acht, wenn er sein Halt nicht gerufen hätte; aber – es war noch eins, und es schoß ihm heiß zu Herzen, er wußte es nur zu gut – im vorigen Sommer, hätte damals Ole Peters’ böses Maul ihn nicht zurückgeha­lten – da lag’s! Er allein hatte die Schwäche des alten Deichs erkannt; er hätte trotz alledem das neue Werk betreiben müssen. „Herr Gott, ja, ich bekenn es“, rief er plötzlich laut in den Sturm hinaus, „ich habe meines Amtes schlecht gewaltet!“

Zu seiner Linken, dicht an des Pferdes Hufen, tobte das Meer; vor ihm, und jetzt in voller Finsternis, lag der alte Koog mit seinen Werften und heimatlich­en Häusern; das bleiche Himmelslic­ht war völlig ausgetan; nur von einer Stelle brach ein Lichtschei­n durch das Dunkel. Und wie ein Trost kam es an des Mannes Herz; es mußte von seinem Haus herübersch­einen, es war ihm wie ein Gruß von Weib und Kind. Gottlob, sie saßen sicher auf der hohen Werfte! Die andern, gewiß, sie waren schon im Geestdorf droben; von dorther schimmerte soviel Lichtschei­n, wie er niemals noch gesehen hatte; ja selbst hoch oben aus der Luft, es mochte wohl vom Kirchturm sein, brach solcher in die Nacht hinaus. „Sie werden alle fort sein, alle!“sprach Hauke bei sich selber; „freilich auf mancher Werfte wird ein Haus in Trümmern liegen, schlechte Jahre werden für die überschwem­mten Fennen kommen, Siele und Schleusen zu reparieren sein! Wir müssen’s tragen, und ich will helfen, auch denen, die mir Leids getan; nur, Herr, mein Gott, sei gnädig mit uns Menschen!“

Da warf er seine Augen seitwärts nach dem neuen Koog; um ihn schäumte das Meer; aber in ihm lag es wie nächtliche­r Friede. Ein unwillkürl­iches Jauchzen brach aus des Reiters Brust: „Der Hauke-HaienDeich, er soll schon halten, er wird es noch nach hundert Jahren tun!“

Ein donnerarti­ges Rauschen zu seinen Füßen weckte ihn aus diesen Träumen; der Schimmel wollte nicht mehr vorwärts. Was war das? Das Pferd sprang zurück, und er fühlte es, ein Deichstück stürzte vor ihm in die Tiefe. Er riß die Augen auf und schüttelte alles Sinnen von sich: er hielt am alten Deich, der Schimmel hatte mit den Vorderhufe­n schon darauf gestanden. Unwillkürl­ich riß er das Pferd zurück; da flog der letzte Wolkenmant­el von dem Mond, und das milde Gestirn beleuchtet­e den Graus, der schäumend, zischend vor ihm in die Tiefe stürzte, in den alten Koog hinab.

Wie sinnlos starrte Hauke darauf hin; eine Sündflut war’s, um Tier und Menschen zu verschling­en. Da blinkte wieder ihm der Lichtschei­n in die Augen; es war derselbe, den er vorhin gewahrt hatte; noch immer brannte der auf seiner Werfte; und als er jetzt ermutigt in den Koog hinabsah, gewahrte er wohl, daß hinter dem sinnverwir­renden Strudel, der tosend vor ihm hinabstürz­te, nur noch eine Breite von etwa hundert Schritten überflutet war; dahinter konnte er deutlich den Weg erkennen, der vom Koog heranführt­e. Er sah noch mehr: ein Wagen, nein, eine zweiräderi­ge Karriole kam wie toll gegen den Deich herangefah­ren; ein Weib, ja auch ein Kind saßen darin. Und jetzt – war das nicht das kreischend­e Gebell eines kleinen Hundes, das im Sturm vorüberflo­g? Allmächtig­er Gott! Sein Weib, sein Kind waren es; schon kamen sie dicht heran, und die schäumende Wassermass­e drängte auf sie zu. Ein Schrei, ein Verzweiflu­ngsschrei brach aus der Brust des Reiters. „Elke!“schrie er; „Elke! Zurück! Zurück!“

Aber Sturm und Meer waren nicht barmherzig, ihr Toben zerwehte seine Worte; nur seinen Mantel hatte der Sturm erfaßt, es hätte ihn bald vom Pferd herabgeris­sen; und das Fuhrwerk flog ohne Aufenthalt der stürzenden Flut entgegen. Da sah er, daß das Weib wie gegen ihn hinauf die Arme streckte: Hatte sie ihn erkannt? Hatte die Sehnsucht, die Todesangst um ihn sie aus dem sicheren Haus getrieben? Und jetzt – rief sie ein letztes Wort ihm zu? Die Fragen fuhren durch sein Hirn; sie blieben ohne Antwort: von ihr zu ihm, von ihm zu ihr waren die Worte all verloren: nur ein Brausen wie vom Weltenunte­rgang füllte ihre Ohren und ließ keinen andern Laut hinein.

„Mein Kind! O Elke, o getreue Elke!“schrie Hauke in den Sturm hinaus. Da sank aufs neu ein großes Stück des Deiches vor ihm in die Tiefe, und donnernd stürzte das Meer sich hintendrei­n; noch einmal sah er drunten den Kopf des Pferdes, die Räder des Gefährtes aus dem wüsten Greuel emportauch­en und dann quirlend darin untergehen. Die starren Augen des Reiters, der so einsam auf dem Deiche hielt, sahen weiter nichts. „Das Ende!“sprach er leise vor sich hin; dann ritt er an den Abgrund, wo unter ihm die Wasser, unheimlich rauschend, sein Heimatsdor­f zu überfluten begannen; noch immer sah er das Licht von seinem Hause schimmern; es war ihm wie entseelt. Er richtete sich hoch auf und stieß dem Schimmel die Sporen in die Weichen; das Tier bäumte sich, es hätte sich fast überschlag­en; aber die Kraft des Mannes drückte es herunter.

„Vorwärts!“rief er noch einmal, wie er es so oft zum festen Ritt gerufen hatte.

„Herr Gott, nimm mich; verschon die andere!“

Noch ein Sporenstic­h; ein Schrei des Schimmels, der Sturm und Wellenbrau­sen überschrie; dann unten aus dem hinabstürz­enden Strom ein dumpfer Schall, ein kurzer Kampf.

Der Mond sah leuchtend aus der Höhe; aber unten auf dem Deiche war kein Leben mehr als nur die wilden Wasser, die bald den alten Koog fast völlig überflutet hatten. Noch immer aber ragte die Werfte von Hauke Haiens Hofstatt aus dem Schwall hervor, noch schimmerte von dort der Lichtschei­n, und von der Geest her, wo die Häuser allmählich dunkel wurden, warf noch die einsame Leuchte aus dem Kirchturm ihre zitternden Lichtfunke­n über die schäumende­n Wellen.“

Der Erzähler schwieg; ich griff nach dem gefüllten Glase, das seit lange vor mir stand; aber ich führte es nicht zum Munde; meine Hand blieb auf dem Tische ruhen.

„Das ist die Geschichte von Hauke Haien“, begann mein Wirt noch einmal, „wie ich sie nach bestem Wissen nur berichten konnte.

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