Die Kibbuzim am Ammersee
Historie Kurz nach dem Krieg waren unter anderem in Theresienbad in Greifenberg jüdische Überlebende untergebracht. Rundfunkjournalist Thies Marsen hat dazu recherchiert
Dießen Thies Marsen ist im Fünfseenland aufgewachsen und arbeitete zehn Jahre in Dießen als Journalist. Wer in der Region groß wird und später journalistisch tätig ist, stößt auf das Thema Nationalsozialismus: In Landsberg saß Adolf Hitler in Festungshaft, und später befanden sich Außenlager des KZ Dachau um Landsberg und in Utting am Ammersee. Thies Marsen, der jetzt für den Bayerischen Rundfunk und den ARD-Reporterpool arbeitet, hat das Thema Nationalsozialismus und Neonazismus in den Mittelpunkt seiner Tätigkeit gestellt. Unter anderem berichtet er über den NSU-Prozess.
Hier am Ammersee ist er auf eine kaum bekannte Historie gestoßen: In den ersten ein bis zwei Jahren nach Kriegsende existierten unter anderem in Dießen, Riederau, Utting und im Theresienbad in Greifenberg jüdische Kibbuze (Kibbuzim). Die Kibbuzidee gründet auf dem kollektiven Zusammenleben gleichberechtigter Mitglieder ohne Privateigentum und lässt sich auf die Anfänge des 20. Jahrhunderts in Weißrussland zurückführen.
„Ich wusste, dass es in Landsberg das große Lager für ’Displaced Persons’ gab und in St. Ottilien ein Lazarett und beispielsweise der späterere Staatsgründer Ben Gurion in Landsberg und in St. Ottilien war, ich hatte aber nur mal am Rande mitbekommen, dass auch in Greifenberg Überlebende untergebracht waren.“Diese Geschichte ist in Vergessenheit geraten, Marsen hat sie wieder ausgegraben.
Ein Zufall stand am Anfang: In der Berliner Zeitung taz las Marsen zufällig die Lebensgeschichte des Überlebenden Walter Frankenstein, in der in einem Halbsatz stand, dass er in Greifenberg war. Dort sei im Dezember 1945 ein zionistisch ausgerichteter Kibbuz eingerichtet worden: „Kibbuz nocham“. An die 200 zumeist junge Frauen und Männer lebten dort. Sie erlernten in Werkstätten diverse Handwerke, beschäftigten sich mit Landwirtschaft, hatten sogar einen eigenen Sportverein: „Ichud Greifenberg“. Davon ist wenig bekannt. Das ehemalige Kurbad, das heute als Kreisseniorenheim genutzt wird, war laut Marsen in der NS-Zeit BDM-Gauführerinnenschule gewesen. „Da wurde die Elite des Bundes Deutscher Mädel ausgebildet.“
Marsen besuchte den 93-jährigen Frankenstein in Stockholm und interviewte ihn drei Tage lang. Frankenstein hatte das Dritte Reich untergetaucht in Berlin erlebt, zusammen mit seiner Frau und zwei Kleinkindern. Er wollte nach Palästina auswandern, 1945 gab es den Staat Israel noch nicht. Frankenstein habe sich deswegen an die Bricha, eine jüdische Untergrundorganisation, gewandt, so Marsen. Während Frau und Kinder nach Haifa reisen konnten, sei er als eine Art Ausbilder nach Greifenberg geschickt worden. Dort habe er zuerst die Küche gemacht. Frankenstein sei sehr sportlich gewesen und habe beispielsweise Schwimmübungen im Ammersee veranstaltet, „immer mit dem Blick auf Palästina“. Auch Schießen sei geübt worden.
Auch in Utting gab es nach Marsens Recherche einen Kibbuz. Von Dorfchronist Werner Weidacher erfuhr er, dass an der Schulstraße Juden untergebracht gewesen seien. An den Dießener Kibbuz habe sich Weidacher, der damals in der Marktgemeinde wohnte, erinnert: „Der war in der Neuen Post.“Dort gab es sogar eine Töpferschule, und wie Marsen weiter herausfand, haben auch die Dießener Fischer jüdischen Überlebenden das Fischerhandwerk gezeigt.
Ob dies angeordnet war oder freiwillig, kann der Journalist nicht sagen, er hat auch keine Quellen gefunden, die konkrete Aussagen über das gesellschaftliche Miteinander erlauben. Unter anderem aus dem Aufstand im Lager der ’Displaced Persons’ 1946 und dem Faktum, dass die Alliierten Wohnungen und Häuser für die jüdischen Überlebenden beschlagnahmten und deren Versorgung besser war als die der deutschen Bevölkerung, schließt Marsen jedoch, dass das Verhältnis wohl von Misstrauen geprägt war. „Ein Raum im Café Vogel in Dießen wurde um 1946 beispielsweise für die Juden als Versammlungsraum requiriert.“Und in Utting sei das Gebäude zuvor als Kindergarten genutzt worden. Thies Marsen erfuhr auch viel über das jüdische Leben dieser kurzen Zeit – die Kibbuze wurden 1947 und Anfang 1948 aufgelöst – aus dem Landsberger Stadtarchiv. Denn dort ist die jiddische Lagerzeitung archiviert.
Rundfunkbeitrag Der Beitrag „Kib buzim am Ammersee“ist in der Reihe „Zeit für Bayern“auf Bayern2 am Sonn tag, 19. November 2017, ab 12.05 Uhr zu hören.