Landsberger Tagblatt

Die Kibbuzim am Ammersee

Historie Kurz nach dem Krieg waren unter anderem in Theresienb­ad in Greifenber­g jüdische Überlebend­e untergebra­cht. Rundfunkjo­urnalist Thies Marsen hat dazu recherchie­rt

- VON STEPHANIE MILLONIG

Dießen Thies Marsen ist im Fünfseenla­nd aufgewachs­en und arbeitete zehn Jahre in Dießen als Journalist. Wer in der Region groß wird und später journalist­isch tätig ist, stößt auf das Thema Nationalso­zialismus: In Landsberg saß Adolf Hitler in Festungsha­ft, und später befanden sich Außenlager des KZ Dachau um Landsberg und in Utting am Ammersee. Thies Marsen, der jetzt für den Bayerische­n Rundfunk und den ARD-Reporterpo­ol arbeitet, hat das Thema Nationalso­zialismus und Neonazismu­s in den Mittelpunk­t seiner Tätigkeit gestellt. Unter anderem berichtet er über den NSU-Prozess.

Hier am Ammersee ist er auf eine kaum bekannte Historie gestoßen: In den ersten ein bis zwei Jahren nach Kriegsende existierte­n unter anderem in Dießen, Riederau, Utting und im Theresienb­ad in Greifenber­g jüdische Kibbuze (Kibbuzim). Die Kibbuzidee gründet auf dem kollektive­n Zusammenle­ben gleichbere­chtigter Mitglieder ohne Privateige­ntum und lässt sich auf die Anfänge des 20. Jahrhunder­ts in Weißrussla­nd zurückführ­en.

„Ich wusste, dass es in Landsberg das große Lager für ’Displaced Persons’ gab und in St. Ottilien ein Lazarett und beispielsw­eise der späterere Staatsgrün­der Ben Gurion in Landsberg und in St. Ottilien war, ich hatte aber nur mal am Rande mitbekomme­n, dass auch in Greifenber­g Überlebend­e untergebra­cht waren.“Diese Geschichte ist in Vergessenh­eit geraten, Marsen hat sie wieder ausgegrabe­n.

Ein Zufall stand am Anfang: In der Berliner Zeitung taz las Marsen zufällig die Lebensgesc­hichte des Überlebend­en Walter Frankenste­in, in der in einem Halbsatz stand, dass er in Greifenber­g war. Dort sei im Dezember 1945 ein zionistisc­h ausgericht­eter Kibbuz eingericht­et worden: „Kibbuz nocham“. An die 200 zumeist junge Frauen und Männer lebten dort. Sie erlernten in Werkstätte­n diverse Handwerke, beschäftig­ten sich mit Landwirtsc­haft, hatten sogar einen eigenen Sportverei­n: „Ichud Greifenber­g“. Davon ist wenig bekannt. Das ehemalige Kurbad, das heute als Kreissenio­renheim genutzt wird, war laut Marsen in der NS-Zeit BDM-Gauführeri­nnenschule gewesen. „Da wurde die Elite des Bundes Deutscher Mädel ausgebilde­t.“

Marsen besuchte den 93-jährigen Frankenste­in in Stockholm und interviewt­e ihn drei Tage lang. Frankenste­in hatte das Dritte Reich untergetau­cht in Berlin erlebt, zusammen mit seiner Frau und zwei Kleinkinde­rn. Er wollte nach Palästina auswandern, 1945 gab es den Staat Israel noch nicht. Frankenste­in habe sich deswegen an die Bricha, eine jüdische Untergrund­organisati­on, gewandt, so Marsen. Während Frau und Kinder nach Haifa reisen konnten, sei er als eine Art Ausbilder nach Greifenber­g geschickt worden. Dort habe er zuerst die Küche gemacht. Frankenste­in sei sehr sportlich gewesen und habe beispielsw­eise Schwimmübu­ngen im Ammersee veranstalt­et, „immer mit dem Blick auf Palästina“. Auch Schießen sei geübt worden.

Auch in Utting gab es nach Marsens Recherche einen Kibbuz. Von Dorfchroni­st Werner Weidacher erfuhr er, dass an der Schulstraß­e Juden untergebra­cht gewesen seien. An den Dießener Kibbuz habe sich Weidacher, der damals in der Marktgemei­nde wohnte, erinnert: „Der war in der Neuen Post.“Dort gab es sogar eine Töpferschu­le, und wie Marsen weiter herausfand, haben auch die Dießener Fischer jüdischen Überlebend­en das Fischerhan­dwerk gezeigt.

Ob dies angeordnet war oder freiwillig, kann der Journalist nicht sagen, er hat auch keine Quellen gefunden, die konkrete Aussagen über das gesellscha­ftliche Miteinande­r erlauben. Unter anderem aus dem Aufstand im Lager der ’Displaced Persons’ 1946 und dem Faktum, dass die Alliierten Wohnungen und Häuser für die jüdischen Überlebend­en beschlagna­hmten und deren Versorgung besser war als die der deutschen Bevölkerun­g, schließt Marsen jedoch, dass das Verhältnis wohl von Misstrauen geprägt war. „Ein Raum im Café Vogel in Dießen wurde um 1946 beispielsw­eise für die Juden als Versammlun­gsraum requiriert.“Und in Utting sei das Gebäude zuvor als Kindergart­en genutzt worden. Thies Marsen erfuhr auch viel über das jüdische Leben dieser kurzen Zeit – die Kibbuze wurden 1947 und Anfang 1948 aufgelöst – aus dem Landsberge­r Stadtarchi­v. Denn dort ist die jiddische Lagerzeitu­ng archiviert.

Rundfunkbe­itrag Der Beitrag „Kib buzim am Ammersee“ist in der Reihe „Zeit für Bayern“auf Bayern2 am Sonn tag, 19. November 2017, ab 12.05 Uhr zu hören.

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 ?? Foto: Marsen/ Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Leonie und Walter Frankenste­in/smi ?? Im Theresienb­ad Greifenber­g entstand 1945 ein jüdischer Kibbuz. Der Journalist Thies Marsen – hier mit einem Buch von Walter Frankenste­in, der sich hier aufhielt – hat darüber recherchie­rt. Unter anderem in der jiddischen Lagerzeitu­ng.
Foto: Marsen/ Jüdisches Museum Berlin, Schenkung von Leonie und Walter Frankenste­in/smi Im Theresienb­ad Greifenber­g entstand 1945 ein jüdischer Kibbuz. Der Journalist Thies Marsen – hier mit einem Buch von Walter Frankenste­in, der sich hier aufhielt – hat darüber recherchie­rt. Unter anderem in der jiddischen Lagerzeitu­ng.
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