„Wir waren vom Auszug der FDP geschockt“
Interview Der Entwicklungsminister Gerd Müller berichtet von dem Moment, als Jamaika in der Nacht scheiterte. Der CSU-Politiker gibt eindeutig den Liberalen die Schuld für die Krise und vermutet dahinter einen kühl geplanten Eklat
Herr Minister, wer ist schuld am Scheitern der Sondierungsgespräche zwischen Union, FDP und Grünen? Gerd Müller: Aus unserer Sicht ist es eindeutig die FDP, die sich mit dem Abbruch der Gespräche ihrer Verantwortung gegenüber dem Wähler und dem ganzen Land entzieht. Und das, ohne dass es dafür nachvollziehbare inhaltliche Gründe gibt. Die Liberalen haben diese Krise ausgelöst.
Wie haben Sie die entscheidende Nachtsitzung erlebt, hat sich der Abbruch abgezeichnet?
Müller: Es war die absolute Schlussrunde, nur noch das Thema Migration war offen. Doch auch in diesem Punkt stand eine Einigung unmittelbar bevor, dazu gab es intensive Gespräche zwischen der Union und den Grünen. Gerade als der Lösungsansatz der FDP vorgestellt wurde, nahmen deren Verhandlungsführer ihre Mäntel und verließen die baden-württembergische Landesvertretung.
Wie hätte der Kompromiss in Sachen Migration denn ausgesehen? In der Frage des Familiennachzugs für Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz schienen ja gerade zwischen Grünen und CSU die Fronten verhärtet... Müller: Die Grünen hätten den von der Union geforderten Richtwert von nicht mehr als 200000 Flüchtlingen pro Jahr akzeptiert. Akzeptiert wurde auch die Aussetzung des Familiennachzugs für ein weiteres Jahr, um dann konkrete Kriterien festzulegen. Auch über die Einstufung von Marokko, Algerien und Tunesien als sichere Herkunftsstaaten bestand Einvernehmen, ebenso haben die Grünen die Einrichtung von Rückführungszentren akzeptiert. Damit waren ja nicht nur die Forderungen der CSU, sondern auch der FDP erfüllt. Darum überrascht uns der Abbruch der Gespräche ja so.
Halten Sie den Abbruch der Gespräche für einen kalkulierten Eklat?
Müller: Dafür spricht einiges. Wir waren vom Auszug der FDP-Verhandler völlig überrascht, ja geschockt. Sachlich gab es aus unserer Sicht dazu keinen Anlass. Also war es wohl so gewollt und geplant.
Welche Gründe vermuten Sie dann hinter dem Schritt der FDP?
Müller: Die Gründe können wir nur im taktischen Bereich vermuten. Es scheint jedenfalls, als sei der Abbruch nicht spontan erfolgt, sondern bereits seit längerem geplant war. Dafür spricht, dass der Schritt mit Reden begründet wurde, die vorgefertigt erschienen. Schon Minuten nach dem Auszug der FDP kursierten ausgefeilte Erklärungen im Internet.
Die FDP macht vor allem das Verhalten der Grünen in den Gesprächen für ihren Ausstieg aus der Jamaika-Runde verantwortlich. Können Sie das nachvollziehen?
Müller: Nein. Bei den Grünen war eine große Bereitschaft zu spüren, Kompromiss und Lösungen zu finden. Sie wollten die Regierungsverantwortung annehmen, hatten aber immer zu bedenken, dass sie mit den Sondierungsergebnissen auch durch den Parteitag müssen. Sie haben hart, aber fair und professionell verhandelt, waren auch stets gut vorbereitet.
Auch die Gesprächsführung von Kanzlerin Angela Merkel wird aus den Reihen der FDP kritisiert. Zu Recht?
Müller: Ganz und gar nicht. Die Kanzlerin hat außerordentlich professionell verhandelt, immer wieder Brücken gebaut. Das gilt übrigens auch für Horst Seehofer. Während der Sondierungsgespräche sind auch CDU und CSU deutlich zusammengerückt. Wir alle wollten jetzt zu einem Abschluss kommen, damit das Land schnell eine handlungsfähige Regierung bekommt.
Trauern Sie der verpassten Chance einer Jamaika-Koalition nach?
Müller: Ja. Da hätte eine Regierung entstehen können, die weite Teile der Gesellschaft abbildet, für Versöhnung steht und alte Verkrustungen aufbricht. Inhaltlich hätte sich jede Seite durchaus in einem Regierungsprogramm wiederfinden kön- nen. Das hat sich ja in der Sondierungsrunde gezeigt.
Wer hätte welche Vorhaben umsetzen können?
Müller: Für die FDP wäre der Einstieg in den Abbau des Solidaritätszuschlags drin gewesen, ebenso wie ein Gesetz, das die Zuwanderung von Fachkräften regelt. Die Grünen hätten sich über sehr weitreichende Maßnahmen zum Klimaschutz freu- en können. Und auf Initiative der Union war ein Zehn-Milliarden-Paket zur Familienförderung vorgesehen, das zum Beispiel auch die Erhöhung des Kindergeldes umfasste. Und die wichtige Obergrenze zur Begrenzung der Zuwanderung hätte vereinbart werden können.
Wie soll es denn nun weitergehen? Müller: Wir haben jetzt ja leider die ungute Situation, dass sich zwei Parteien ihrer Regierungsverantwortung entziehen. Neben der FDP verweigert sich ja auch die SPD einer Koalition. Sehen Sie noch die Chance, dass die SPD ihre Haltung ändert?
Müller: Das wäre sehr wünschenswert. Auch die SPD steht jetzt in der Pflicht, alles zu tun, um eine Destabilisierung des Landes zu verhindern. Der starke AfD-Block hat dafür gesorgt, dass wir diese instabile Situation im Land jetzt haben. Alle Kräfte der demokratischen Mitte müssen sich dieser Herausforderungen stellen. Da verbietet es sich, den Wählerauftrag aus parteitaktischen Erwägungen zurückzuweisen.
Dann blieben nur noch eine Minderheitsregierung oder Neuwahlen ... Müller: Beides wäre problematisch. Eine Minderheitsregierung wird vermutlich nicht allzu lange funktionieren. Und bei Neuwahlen kommt möglicherweise kein Ergebnis heraus, das sich von dem am 24. September grundlegend unterscheidet. Dann hätten wir in einigen Monaten wieder dasselbe Problem. Ich hoffe deshalb sehr, dass es in den kommenden Wochen noch Anstrengungen gibt, eine neue stabile Regierung zu bilden.
Person Der gebürtige Krumba cher Gerd Müller ist seit 2013 Bundes minister für wirtschaftliche Zusammenar beit und Entwicklung und führt das Amt bis auf Weiteres geschäftsführend aus. Der 62 jährige CSU Politiker lebt in Kempten. Die französische Zeitung meint: „Deutschland ist gerade in eine schwere politische Krise gestürzt, und ganz Europa wird darunter leiden. Deutschland ist nicht nur die größte Volkswirtschaft der EU, es ist auch der Stabilitätspol der Union und der notwendige Partner Frankreichs im gesamten europäischen Projekt.
„Es hätte eine Regierung entstehen können, die weite Teile der Gesellschaft abbildet, für Versöhnung steht und alte Verkrustungen aufbricht.“
Das Schweizer Blatt kommentiert: „Die letzte Möglichkeit wären Neuwahlen. In dem Fall wäre die Ära der kürzlich noch als mächtigste Frau der Welt gefeierten Pfarrerstochter trotz ihres ungebrochenen Willens doch schon nach 12 statt nach 16 Jahren beendet. Und der Bundesrepublik stünde der heißeste politische Winter ihrer Geschichte bevor.“
CSU Minister Gerd Müller
Die niederländische Zeitung schreibt: „Dass es die Liberalen sind, die sich zurückziehen, ist überraschend, weil gerade Christian Lindner lange Zeit optimistisch und pragmatisch schien. Wo ein Wille sei, da sei auch ein Weg, hatte er früher gesagt. Aber er ließ auch öfter durchblicken, dass seine Partei in einer solchen Koalition am wenigsten zu gewinnen hätte. Nach vier Jahren Abwesenheit vom Bundestag wollte die FDP in der kommenden Legislaturperiode eigentlich am liebsten in die Opposition.“