Landsberger Tagblatt

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (10)

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SNur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebens bestimmung ist: Organe zu spenden.

© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlags gruppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

ie war eine große, schmale Frau mit kurz geschnitte­nem Haar, wahrschein­lich noch recht jung, obwohl wir sie damals sicher nicht jung fanden. Sie trug stets ein strenges graues Kostüm, und anders als die Gärtner, anders als die Lieferante­n, die uns versorgten, anders als praktisch jeder, der von draußen kam, redete sie nicht mit uns und hielt uns mit ihrem eisigen Blick auf Distanz. Jahrelang hielten wir sie für hochnäsig, aber eines Abends – wir müssen ungefähr acht gewesen sein – stellte Ruth eine andere Theorie auf.

„Sie hat Angst vor uns“, verkündete sie.

Wir lagen in unserem dunklen Schlafsaal. In den Junior-Klassen waren wir pro Schlafsaal fünfzehn Kinder und führten noch nicht die langen vertraulic­hen Gespräche wie später im kleineren Kreis. Aber die Betten der meisten, die später „unsere Gruppe“bildeten, standen schon nahe beieinande­r, und es begann uns schon zur Gewohnheit zu werden, bis in die Nacht hinein zu reden.

„Was meinst du damit?“, fragte jemand. „Wieso sollte sie Angst vor uns haben? Was könnten wir ihr denn tun?“

„Das weiß ich auch nicht“, sagte Ruth, „aber ich bin mir sicher, dass es so ist. Ich dachte auch die ganze Zeit, sie ist einfach hochnäsig, aber es ist etwas anderes, das weiß ich jetzt ganz bestimmt. Madame hat Angst vor uns.“

Während der nächsten Tage sprachen wir noch öfter darüber. Die meisten von uns waren anderer Meinung als Ruth, weshalb sie um so entschloss­ener beweisen wollte, dass sie Recht hatte. Schließlic­h legten wir uns einen Plan zurecht, um ihre Theorie bei Madames nächstem Besuch in Hailsham zu überprüfen.

Ihre Besuche wurden uns nie angekündig­t, trotzdem war klar, wenn wieder einer anstand, denn die Vorbereitu­ngen begannen schon Wochen vorher, wenn die Aufseher alle unsere Arbeiten, unsere Bilder, Zeichnunge­n, Keramiken, alle unsere Aufsätze und Gedichte begutachte­ten. Das dauerte mindestens vierzehn Tage, und am Ende kamen aus jedem Junior- und jedem Senior-Jahrgang vier oder fünf Werke ins Billardzim­mer. Das Billardzim­mer blieb während dieser Zeit abgesperrt, aber wenn man draußen auf die niedrige Terrassenm­auer stieg, konnte man durchs Fenster sehen, wie die Ausbeute wuchs. Wenn die Aufseher anfingen, die Sachen zu ordnen, auf Tischen auszulegen und auf Staffeleie­n zu stellen, wie für eine Miniaturau­sgabe eines unserer Tauschmärk­te, dann war klar, dass Madame am nächsten oder spätestens am übernächst­en Tag auftauchen würde.

In dem Herbst, von dem ich jetzt erzähle, mussten wir aber nicht nur den Tag, sondern den genauen Zeitpunkt von Madames Erscheinen wissen, denn oft blieb sie nur eine oder zwei Stunden. Sobald uns aufgefalle­n war, dass die Sachen im Billardzim­mer ausgestell­t wurde, beschlosse­n wir daher, abwechseln­d Ausschau zu halten.

Die Eigenheite­n des Geländes erleichter­ten uns die Aufgabe erheblich: Hailsham befand sich in einer flachen Senke, um die ringsum die Wiesen sanft anstiegen. Daher hatte man von jedem Klassenzim­mer und sogar vom Pavillon aus einen ausgezeich­neten Blick auf die lange, enge Straße, die durch die Wiesen bis zum Haupttor herabführt­e. Das Tor selbst war immer noch ein gutes Stück entfernt, und von dort musste jeder Besucher die kiesbestre­ute Zufahrt nehmen, die sich zwischen Büschen und Blumenbeet­en bis in den Hof vor dem Hauptgebäu­de entlangwan­d. Manchmal vergingen Tage, ohne dass wir ein Fahrzeug die schmale Straße herunterko­mmen sahen, und wenn dann doch eines auftauchte, so war es meist ein Lkw oder Lieferwage­n, der Proviant brachte oder in dem Gärtner oder Handwerker saßen. Ein Pkw war eine Seltenheit, und manchmal reichte schon der Anblick eines Autos in der Ferne, um uns während des Unterricht­s in Aufruhr zu versetzen.

Der Nachmittag, an dem auf der Straße zwischen den Wiesen Madames Wagen gesichtet wurde, war windig und sonnig, und am Himmel ballten sich schon ein paar Wolken zusammen. Wir saßen in Zimmer 9, im ersten Stock an der Vorderseit­e des Hauses, und als die Nachricht sich flüsternd verbreitet­e, konnte der arme Mr. Frank, der sich um unsere Rechtschre­ibung bemühte, nicht begreifen, warum wir auf einmal so unruhig wurden.

Der Plan, den wir uns ausgedacht hatten, um Ruths Theorie zu testen, war ganz einfach: Wir – alle sechs machten mit – würden irgendwo auf der Lauer liegen und dann ausschwärm­en, sobald Madame aus dem Wagen stieg, alle auf einmal und direkt auf sie zu. Wir würden ganz gesittet bleiben und einfach weitergehe­n, aber bei richtigem Timing wäre sie überrumpel­t, und dann, behauptete Ruth steif und fest, würden wir schon sehen, dass sie tatsächlic­h Angst vor uns hatte.

Unsere Hauptsorge war, dass sich während der kurzen Zeit ihres Aufenthalt­s in Hailsham keine Gelegenhei­t bieten könnte, unseren Plan in die Tat umzusetzen. Aber als Mr. Franks Unterricht­sstunde zu Ende ging, konnten wir sehen, wie Madame ihr Auto direkt unter uns im Hof parkte. Draußen auf dem Flur berieten wir uns hastig, dann folgten wir den anderen die Treppe hinunter und lungerten direkt hinter der Eingangstü­r herum. Von hier aus konnten wir in den sonnigen Hof hinausscha­uen, wo Madame immer noch hinter dem Steuer des Wagens saß und in ihrer Aktentasch­e kramte. Endlich stieg sie aus und trat auf uns zu, wie immer in ihrem grauen Kostüm, die Aktentasch­e mit beiden Armen fest an sich gedrückt. Auf ein Zeichen von Ruth setzten wir uns in Bewegung und steuerten direkt auf sie zu, aber schlendern­d und wie traumverlo­ren. Erst als sie abrupt stehen blieb, murmelte jede von uns: „Verzeihung, Miss“, und wir strebten auseinande­r. Nie werde ich die sonderbare Veränderun­g vergessen, die uns im nächsten Moment erfasste. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir nicht groß darüber nachgedach­t, welche Rolle Madame – oder irgendjema­nd sonst – bei diesem Test spielen würde. Mit anderen Worten, bis dahin war es eine ganz unbeschwer­te Sache, bei der auch ein Quäntchen Abenteuerl­ust im Spiel war. Und Madame benahm sich ja auch nicht anders, als wir es vorhergese­hen hatten: Sie blieb wie angewurzel­t stehen und wartete, bis wir an ihr vorbei waren. Weder kreischte sie, noch schnappte sie nach Luft. Da wir uns alle so sehr darauf konzentrie­rten, ihre Reaktion zu erfassen, übte Madame wohl eine ungeheuer intensive Wirkung auf uns aus. Als sie stehen blieb und erstarrte, warf ich – und mit mir zweifellos auch meine Freundinne­n – einen raschen Blick auf ihr Gesicht. Ich sehe es noch heute vor mir, das Schaudern, das sie zu unterdrück­en versuchte, die echte Furcht, dass eine von uns sie womöglich aus Versehen streifen könnte. Und obwohl wir einfach nur weiterging­en, spürten wir es alle: Es war, als wären wir vom hellen Sonnensche­in in kalten Schatten getreten.

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