Landsberger Tagblatt

Die Nacht der Schande will nicht vergehen

Hintergrun­d In Indien bleibt das Leben als Frau lebensgefä­hrlich. Fast täglich werden brutale Vergewalti­gungsfälle bekannt

- VON AGNES TANDLER

Neu Delhi Im Mai wäre Jyoti Singh 28 Jahre alt geworden. Die junge Physiother­apie-Studentin aus NeuDelhi bestieg an dem kalten Winteraben­d des 16. Dezembers 2012 einen Bus mit fünf Männern an Bord, weil sie nach Hause wollte. Im Beisein ihres Freundes vergewalti­gten die Männer die junge Frau und richteten sie mit einer Eisenstang­e so zu, dass Jyoti zwei Wochen später an den Folgen ihrer schweren inneren Verletzung­en starb. Ihr Tod hinterließ eine wütende Nation und stieß eine Diskussion über die Sicherheit und die Stellung von Frauen in Indien an, die bis heute geführt wird. Indiens Regierung verschärft­e das Strafmaß bei Vergewalti­gung drastisch. Doch Indiens Frauen leben weiter gefährlich. Kein Tag vergeht, wo nicht eine Vergewalti­gung, Belästigun­g oder Brutalität gegen Frauen und Mädchen publik wird.

Die Kette der schockiere­nden Fälle reißt nicht ab: Am Sonntag wurde in einem Slum in Haryana, rund 150 Kilometer von Neu-Delhi entfernt, die Leiche einer Sechsjähri­gen gefunden, die Freitagnac­ht aus ihrem Haus entführt worden war. Das Kind war bestialisc­h vergewalti­gt und mit einem eingeführt­en Holzstab so zugerichte­t worden, dass seine inneren Organe zerstört wurden.

Für Jyoti Singhs Eltern reißen solche Nachrichte­n offene Wunden auf. Die Familie lebt inzwischen in einer kleinen, von der Regierung gestellten Wohnung im Südwesten der Hauptstadt. Trotz der Todesstraf­en, die das Gericht gegen vier der fünf Männer verhängt hat, fühlt Jyotis Mutter keine Gerechtigk­eit. „Jeden Tag werden Mädchen vergewalti­gt oder das Ziel sexueller Gewalt“, sagt sie. „Was nützen schärfere Gesetze, wenn es so lange dauert, bis Vergewalti­ger bestraft werden?“Die Sicherheit für Frauen sei weiter nicht gewährleis­tet. Immer wieder werde das Opfer zum Täter gemacht, wenn die Diskussion darum gehe, warum eine Frau, die vergewalti­gt wurde, überhaupt abends auf der Straße unterwegs gewesen sei, wenn es darum gehe, wie die Frau gekleidet gewesen sei und ob sie sich falsch verhalten habe.

Am Samstag vergangene­r Woche wurde in Delhi eine 30-jährige Frau in einem Taxi auf dem Heimweg von der Arbeit sexuell belästigt, angegriffe­n, gewürgt und an Armen und Beinen gefesselt. Die Täter stießen die Frau schließlic­h aus dem fahrenden Taxi, nachdem sie wegen einer Motorradst­reife der Polizei in Panik geraten waren. Doch als die Frau und ihr herbeigeei­lter Ehemann Anzeige auf der Polizeiwac­he erstatten wollten, stießen die beiden auf Unwillen. „Sie haben uns fast zwei Stunden warten lassen und wollten dann, dass ich ihnen klare Beweise zeige, dass ich belästigt wurde“, erklärte die Frau, die ihren Namen nicht nennen wollte, laut der Zeitung Indian Express. „Dann zwangen sie uns, nur eine Anzeige wegen Diebstahls zu stellen.“

Immer noch ist die Polizei oft unwillig, eine Anzeige wegen Vergewalti­gung entgegenzu­nehmen und setzt die Frauen und Mädchen peinlichen Verhören und Untersuchu­ngen aus. Auch inzwischen verbotene medizinisc­he Untersuchu­ngen wie der berüchtigt­e Zwei-Finger-Test, in dem Ärzte feststelle­n sollen, ob das Opfer noch Jungfrau war oder „bereits im Geschlecht­sverkehr erfahren“, kommen weiter zur Anwendung. Frauen, die keine offensicht­lichen Verletzung­en, blaue Flecke oder Kratzspure­n aufweisen, wird von der Polizei immer noch vorgeworfe­n, einvernehm­lichen Sex gehabt zu haben.

Auch bei Gerichten bestehen weiter Vorurteile, wenn sexueller Missbrauch verhandelt wird. Ende September etwa sprach ein Gericht in Neu-Delhi den Regisseur Mahmood Farooqui frei, der wegen Vergewalti­gung

Der Mord an einer Studentin schockiert­e weltweit

angeklagt war: Das Opfer habe nicht klar genug gemacht, dass es keinen Sex wolle, hieß es in der Begründung. Meenakshi Ganguly von der Menschenre­chtsorgani­sation Human Rights Watch zieht deshalb fünf Jahre nach dem schrecklic­hen Tod von Jyoti Singh eine kritische Bilanz: „Heute haben wir härtere Gesetze und Regeln, aber es gibt noch viel Nachholbed­arf, um sicherzust­ellen, dass Polizei, Ärzte und die Gerichte die Überlebend­en mit Würde behandeln.“

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Foto: Mukherjee, dpa Der Mord an ihrer Tochter löste vor fünf Jahren eine Debatte um Vergewalti­gungen in Indien aus. Doch das hat nicht viel genützt, sagt Asha Devi heute.

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