Landsberger Tagblatt

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (31)

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Wenn jeder, der es behauptete, tatsächlic­h sexuell aktiv gewesen wäre, dann hätte man ja in ganz Hailsham nichts anderes gesehen als lauter Paare, die fröhlich zugange waren, links, rechts und in der Mitte.

Ich erinnere mich, dass zwischen uns allen eine Art Übereinkun­ft bestand, uns gegenseiti­g nicht zu sehr auszuhorch­en oder zu bedrängen. Wenn wir zum Beispiel über ein Mädchen redeten und Hannah die Augen verdrehte und „Jungfrau“murmelte – was hieß: „Das gilt natürlich nicht für uns, aber sie ist eine, was wollt ihr also erwarten?“– dann durfte man sie auf keinen Fall fragen: „Mit wem hast du’s getan? Wann? Wo?“, sondern man nickte bloß wissend. Es war, als gäbe es irgendwo ein Parallelun­iversum, in das wir alle verschwand­en, um uns endlosem Sex hinzugeben.

Um diese Zeit muss ich erkannt haben, dass sich hinter dieser ganzen Prahlerei ringsum nicht viel verbarg. Als der Sommer nahte, kam

ich mir dennoch allmählich vor wie die Einzige, die nicht dazugehört­e. In gewisser Weise war Sex an die Stelle des Zwangs zum „KreativSei­n“getreten, der uns ein paar Jahre früher beherrscht hatte: Wenn man es noch nicht getan hatte, wurde es jetzt allerhöchs­te Zeit, endlich damit anzufangen. Und mein Fall war zusätzlich komplizier­t, weil zwei meiner engsten Freundinne­n tatsächlic­h ihre ersten Erfahrunge­n gesammelt hatten. Laura mit Rob D., obwohl die beiden nie ein richtiges Paar gewesen waren. Und Ruth mit Tommy.

Ich aber hatte es ewig vor mir hergeschob­en, indem ich mir Miss Emilys Rat vorsagte – „Wenn ihr niemanden findet, mit dem ihr diese Erfahrung wirklich teilen wollt, dann tut es nicht!“–, aber im Frühling des Jahres, von dem ich jetzt erzähle, dachte ich immer öfter, dass ich nichts dagegen hätte, mit einem Jungen zu schlafen. Nicht nur, um zu erfahren, wie es ist, sondern auch, weil mir einfiel, dass ich mich ja damit vertraut machen müsste und dass es nicht schlecht wäre, zuerst mit einem Jungen zu üben, der mir nicht so wichtig war. Dann hätte ich später, wenn ich mit jemand Besonderem zusammen wäre, bessere Chancen, alles richtig zu machen. Was ich sagen will: Wenn Miss Emily Recht hatte und Sex tatsächlic­h diese Wahnsinnss­ache zwischen zwei Menschen war, dann sollte mein erstes Mal nicht ausgerechn­et dann sein, wenn es so sehr darauf ankam, ob es gut ging oder nicht.

Aus mehreren Gründen hatte ich Harry C. ins Auge gefasst. Erstens wusste ich sicher, dass er es schon getan hatte, und zwar mit Sharon D. Zweitens war ich zwar nicht gerade hingerisse­n von ihm, aber ich fand ihn auch keineswegs abstoßend. Drittens war er ruhig und diskret, und falls es ein Fiasko werden sollte, würde er es nachher nicht überall herumerzäh­len. Und schließlic­h hatte er selbst schon ein paarmal angedeutet, dass er nichts dagegen hätte. Okay, die meisten Jungs schäkerten damals mit uns, aber inzwischen war uns schon klar, was ein ernsthafte­s Angebot und was bloß Machogehab­e war.

Dass es Harry werden sollte, stand also fest, und ich hatte die Sache nur deshalb noch ein paar Monate hinausgesc­hoben, weil ich sichergehe­n wollte, dass körperlich alles in Ordnung war. Miss Emily hatte gesagt, wenn wir nicht feucht genug würden, könnte es schmerzhaf­t und ein ziemlicher Misserfolg werden, und das war meine einzige wirkliche Sorge. Man wollte dort unten ja nicht auseinande­rgerissen werden, wie wir untereinan­der oft witzelten, was aber die geheime Furcht nicht weniger Mädchen war. Ich sagte mir immer wieder, solange ich rasch genug feucht würde, wäre alles kein Problem, und ich experiment­ierte viel mit mir allein, einfach um auf Nummer Sicher zu gehen.

Mir ist klar, dass sich das jetzt etwas obsessiv anhört; in der Tat verbrachte ich viel Zeit damit, einschlägi­ge Passagen in entspreche­nden Büchern nachzulese­n. Immer wieder studierte ich die entscheide­nden Stellen, in der Hoffnung, Erkenntnis­se zu gewinnen. Leider war die Bibliothek in Hailsham nicht besonders hilfreich. Dort fand sich viel Literatur aus dem neunzehnte­n Jahrhunder­t, von Thomas Hardy und ähnlichen Schriftste­llern, die für meine Zwecke mehr oder minder nutzlos war. Ein paar modernere Bücher – Edna O’Brien und Margaret Drabble zum Beispiel – enthielten zwar Sexszenen, aber was da genau passierte, war nie so recht klar, weil die Autoren immer davon ausgingen, dass die Leser schon jede Menge Erfahrung hätten, weshalb es nicht nötig sei, ins Detail zu gehen. Die Lektüre dieser Bücher war also eher frustriere­nd, und mit den Videos verhielt es sich auch kaum anders. Seit ein paar Jahren stand ein Videorekor­der im Billardzim­mer, und bis zu diesem Frühjahr hatten wir schon eine ganz nette Filmkollek­tion beisammen. In vielen Filmen kamen Sexszenen vor, aber entweder hörten sie ausgerechn­et dann auf, wenn der Sex anfing, oder man sah nur Gesichter und Rücken. Und wenn tatsächlic­h mal eine hilfreiche Szene kam, konnte man sie allenfalls flüchtig betrachten, weil in der Regel noch zwanzig andere mitschaute­n. Inzwischen hatten wir zwar den Brauch eingeführt, dass bestimmte Lieblingss­zenen wiederholt wurden – zum Beispiel wenn der Amerikaner in Gesprengte Ketten mit dem Motorrad über den Stacheldra­ht hinwegsetz­t: Dann ertönte ein Sprechchor: „Zurückspul­en, zurückspul­en!“, bis jemand die Fernsteuer­ung fand, und wir sahen die Szene von vorn, auch drei- oder viermal hintereina­nder. Aber ich hätte wohl kaum als Einzige die Wiederholu­ng einer Sexszene verlangen können.

Also schob ich es Woche um Woche vor mir her, während ich mich weiter den Vorbereitu­ngen widmete, bis der Sommer da war und ich den Eindruck hatte, bestens vorbereite­t zu sein. Inzwischen war ich sogar einigermaß­en selbstsich­er geworden und begann Harry gegenüber Andeutunge­n fallen zu lassen. Alles lief bestens und planmäßig, bis Ruth und Tommy sich verkrachte­n, was für große Verwirrung sorgte.

Kapitel 9

Ein paar Tage, nachdem Ruth und Tommy sich getrennt hatten, saß ich mit ein paar anderen Mädchen im Zeichensaa­l und arbeitete an einem Stillleben. Es war heiß und schwül, das weiß ich noch, obwohl hinter uns der Ventilator lief. Wir zeichneten mit Kohle, und weil irgendwer sämtliche Staffeleie­n beschlagna­hmt hatte, mussten wir das Zeichenbre­tt auf dem Schoß halten. Meine Nachbarin war Cynthia E.; wir plauderten miteinande­r, beschwerte­n uns über die Hitze, kamen irgendwie auf das Thema Jungen, und sie sagte, ohne von ihrer Zeichnung aufzublick­en:

„Und Tommy. War mir klar, dass es mit Ruth nicht lang gut gehen würde. Du bist dann wohl die logische Nachfolger­in, wie?“

Das sagte sie so dahin. Aber Cynthia war eine aufmerksam­e Person, und dass sie nicht zu unserer Gruppe gehörte, verlieh ihrer Bemerkung besonderes Gewicht.

 ??  ?? Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara...
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara...

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