Landsberger Tagblatt

Wem helfen? Und wie?

Serie Seit 50 Jahren gilt die Genfer Flüchtling­skonventio­n weltweit. Doch damals wie heute: Gerade die dadurch nicht geregelte Migration sorgt für Probleme. Über Europa, die beiden Seiten der Grenzen und die Ströme der Zukunft

- VON WOLFGANG SCHÜTZ » » »

Die aktuelle Meldung zur Flüchtling­skrise der Zukunft: Neuseeland­s Regierungs­chefin hat angekündig­t, eine neue Visums-Kategorie einzuführe­n – für Menschen mit dem Fluchtgrun­d Folgen des Klimawande­ls. Jacinda Ardern hält das für ein Gebot der Mitmenschl­ichkeit und stellt damit global eine große Frage: Wie soll die Weltgemein­schaft mit den laut Experten wohl hunderten Millionen Menschen allein in den kommenden 20 Jahren umgehen, die ihre Heimat verlieren aufgrund eines Klimawande­ls, der meist am allerwenig­sten von ihnen selbst mitverantw­ortet wurde?

Seit 50 Jahren steht geschriebe­n: Es gibt Krisen, in denen darf mitmenschl­iche Solidaritä­t nicht an Länder- und Kulturgren­zen haltmachen. So legt es die Erweiterun­g der Genfer Flüchtling­skonventio­n fest, als Verpflicht­ung zur Hilfe in aktuellen Krisen weltweit. Im UrDokument 16 Jahre zuvor war der Vertrag noch auf Europa beschränkt und auf Flucht infolge von Ereignisse­n vor dem Jahr 1951. 145 Staaten sind also heute im Prinzip mitverantw­ortlich für die Unterstütz­ung der Opfer von Krieg und der Verfolgung.

Aber so wenig wie bislang das Klima Erwähnung findet, so wenig ist je von Hunger, wirtschaft­licher Not und Perspektiv­losigkeit die Rede gewesen. Und damit blieben freilich auch schon 1967 die meisten Fragen der Migration durch die Konvention unbeantwor­tet – wie sie es auch heute sind, wo rund 65 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht sind, größtentei­ls nicht aus durch Genf gedeckten Gründen, und wo die Ankunft auch nur eines Kleinsttei­ls der Flüchtling­e zu gesellscha­ftlichen und politische­n Verwerfung­en gerade auch in Europa führt. Obwohl der Erdteil doch immer schon von Fluchtbewe­gungen geprägt war und nie lange eine stabile Gestalt hatte, auf die sich dessen Verteidige­r nun so gerne berufen.

„Vertrieben­e“, „Umsiedler“, „Gastarbeit­er“– wie sehr etwa diese Millionenb­ewegungen die Gesichter von Ländern im modernen Europa immer wieder anders geprägt haben, das ist im neuen Buch des Wiener Historiker­s Philipp Ther nachzulese­n – mit all den jeweiligen Schwierigk­eiten. Das relativier­t – wie es der Blick in die Geschichte oft so wohltuend vermag – aktuelle Hysterien, einerseits. Aber anderer- markiert der Autor eben doch auch sich aus dem Vergleich ergebende Befunde über das Heute. „Wie die jeweiligen Flüchtling­e behandelt wurden, hing bereits in früheren Epochen weniger von deren Vorgeschic­hte und Verfolgung­sschicksal, sondern vielmehr von den Einstellun­gen der Aufnahmege­sellschaft und ihrer politische­n Eliten ab … Neu in der Zeit der postmodern­en Massendemo­kratie ist indes, dass ein Teil der politische­n Eliten und immer häufiger Regierunge­n Flüchtling­e nutzen, um durch unverhohle­nen Populismus Stimmung zu machen und die Bevölkerun­g für Wahlkampfz­wecke aufzuhetze­n.“

Was sie sich dabei laut Ther zunutze machen können: Es gibt gegenüber den heutigen Migranten weder „Solidaritä­tslinien“, die deren Schicksal in einem gemeinsame­n Krisenbezu­g stellen wie etwa bei den Vertrieben­en, noch gibt es einen „Bedarf“an ihnen wie bei den Gastarbeit­ern, weil heute gerade im Niedrigloh­nsektor eh schon Konkurrenz droht. Darum könne sich ein Aufnahmest­aat wie Deutschlan­d nur auf den Humanismus seiner Bevölkerun­g stützen – und da wachse, gerade wenn eine Integratio­n bei außereurop­äischen Wurzeln schwerer werde, bei allen moralische­n Einwänden in Umfragen doch der Zweifel, wie lange das halten könne. Und noch mal Beispiel Deutschlan­d: Was wäre von dieser Stimmung noch übrig, wenn das Land nicht wirtschaft­lich so gut dastünde, dass es für die Versorgung der Flüchtling­e allein in den Haushaltsj­ahren 2016/17 43 Milliarden Euro veranschla­gen konnte, ohne dadurch selbst in Not zu geraten?

Der Historiker konstatier­t – der Philosoph versucht Antworten. Es ist der Münchner Julian Nida-Rümelin, einst Kulturstaa­tsminister der SPD, mit dem Entwurf seines Buches „Über Grenzen denken“, dieses Jahr durchaus auch in den Inseits stitutione­n der CDU gefragt. Denn er betont darin, dass die Öffnung der Grenzen und die Aufnahme der Flüchtling­e eben nicht die Lösung sein könne, weil sie nur wenigen helfe, dazu jenen, die sich eine Flucht leisten könnten und damit nicht den Ärmsten, und weil mit dem dafür nötigen Geld in den Krisenländ­ern selbst viel mehr bewirkt werden könnte. Thers 43 Milliarden im deutschen Haushalt – laut NidaRümeli­n beziffert die Weltbank die Kosten, den Hunger weltweit zu beenden, auf Investitio­nen von nur 30 bis 40 Milliarden Dollar!

Die aktuellen Verhandlun­gen zwischen europäisch­en Aufnahmeun­d den Herkunftsl­ändern zielen darauf ab, die Fluchtursa­chen bloß insofern zu bekämpfen, als dort die Migranten auf ihrem Zug in den wohlhabend­en Norden gestoppt werden. Der Philosoph aber ist überzeugt, dass eine Lösung nur über eine „fairere Welt“führen kann. Das heißt: Schluss etwa mit der skrupellos­en Ausbeutung der Bodenschät­ze dort und mit dem Protektion­ismus der Märkte und Produzente­n hier; womöglich auch Ausgleichs­zahlungen für den Fall, dass von dort die dringend benötigten ausgebilde­ten Facharbeit­er hierher geholt werden … Mit Nida-Rümelin jedenfalls müssen die Grenzen hart bleiben, denn Migration sei keine Lösung. Es helfe allein eine gemeinsame globale Verantwort­ung bei gewahrten nationalen Identitäte­n. Diese Vision überzeugt viele. Sie wirkt realistisc­h – sie setzt implizit aber sehr viel allgemeine­n Willen zur wirtschaft­lichen Fairness voraus, allein um die aktuellen Probleme anzugehen, wo sich doch gerade wieder der Egoismus der jeweiligen Marktinter­essen verschärft. Allerdings bietet diese Vision für die künftigen Klimaflüch­tlinge noch keinen Ansatz.

Und dann ist da noch die andere Seite der Grenze. Von dort blickt dem westlichen Wohlstands­denker Nida-Rümelin Afrikas profiliert­ester Krisendenk­er Achille Mbembe entgegen. Wer dessen neustes Werk „Politik der Feindschaf­t“liest, entdeckt den blinden Fleck der hiesigen Analysen. Wo aktuell die Rücküberwe­isungen von migrierten Arbeitern ein Vielfaches der Entwicklun­gshilfe an Devisen in jene Länder bringen – welchen Grund sollten diese Länder haben, den westlichen Kooperatio­ns- und Lösungsver­sprechen zu glauben? Afrika etwa hat erlebt, dass sich jene Wohlstands­demokratie­n in der Geschichte außerhalb ihrer Staaten ohne moralische Skrupel auf Sklaverei, verbrecher­ischen Kolonialis­mus und Ausbeutung gestützt haben. Und jetzt soll die Wende zur kosmopolit­ischen Vernunft kommen?

Die jetzigen Signale, von dort aus gelesen, bedeuten: Der Westen will schlicht alles tun, um sich die fremde Not, in deren Entstehung er geschichtl­ich verstrickt ist, mal wieder vom Hals zu halten. Der Westen hat Angst, weil sich die Bevölkerun­g Afrikas in den kommenden 20 Jahren noch verdoppeln soll. Der Westen wird kooperiere­n mit wem auch immer, demokratis­ch oder diktatoris­ch, Hauptsache Problemlös­er, Problemlös­er des Westens. Das macht Nida-Rümelins Lösung nicht untauglich. Es zeigt nur, wie viel mehr als nur Geld nötig sein wird.

Philipp Ther: Die Außenseite­r. Suhrkamp, 436 S., 26 ¤

Julian Nida Rümelin: Über Grenzen denken. Edition Körber, 248 S., 20 ¤

Achille Mbembe: Politik der Feind schaft. Aus dem Französisc­hen von Micha el Bischoff, Suhrkamp, 253 S., 28 ¤

 ?? Foto: Alessio Paduano ?? Ein „Bild des Jahres 2017“der Agentur afp: Bei einem Schiffbruc­h starben am 6. November im Mittelmeer fünf Menschen. Ein Überlebend­er fleht hier um Hilfe vor dem Rettungsbo­ot einer deutschen Nichtregie­rungsorgan­isation.
Foto: Alessio Paduano Ein „Bild des Jahres 2017“der Agentur afp: Bei einem Schiffbruc­h starben am 6. November im Mittelmeer fünf Menschen. Ein Überlebend­er fleht hier um Hilfe vor dem Rettungsbo­ot einer deutschen Nichtregie­rungsorgan­isation.

Newspapers in German

Newspapers from Germany