Landsberger Tagblatt

Sekunden, die alles verändern

Justiz Bei einem Autounfall zwischen Tussenhaus­en und Türkheim kam 2015 ein Mann aus dem Landkreis ums Leben. Ein anderer Fahrer, der überlebt hat, steht nun vor Gericht

- VON MELANIE LIPPL

Landkreis/Unterallgä­u Es sind nur wenige Sekunden – und plötzlich ist alles anders. Wenige Sekunden, in denen ein Mann mit seinem Geländewag­en samt Anhänger nach links in einen Feldweg einbiegen will. Wenige Sekunden, in denen der dahinter fahrende Autofahrer aus dem Landkreis Landsberg ihn überholen will. Nur Sekundenbr­uchteile lang: der Zusammenst­oß. Beide Wagen kommen von der Straße ab. Der Autofahrer prallt mit seinem Wagen gegen einen Baum. Er stirbt. Das Gespann landet im Acker. Der Fahrer wird leicht verletzt. Binnen weniger Sekunden wird ein Menschenle­ben ausgelösch­t und ein zweites auf den Kopf gestellt.

Was genau in diesen wenigen Sekunden am 30. September 2015 zwischen Türkheim und Tussenhaus­en passiert ist und ob dieser Unfall womöglich vermeidbar gewesen wäre, darum ging es jetzt vor dem Memminger Amtsgerich­t. Weil der Fahrer des Gespanns in den Augen der Staatsanwa­ltschaft eine Mitschuld am Unfall trägt, hatte er einen Strafbefeh­l erhalten, gegen den er Einspruch eingelegt hatte. Nun saß er vor Richterin Barbara Roßdeutsch­er auf der Anklageban­k. Der Vorwurf: fahrlässig­e Tötung. Er habe seine „doppelte Rückschaup­flicht“beim Linksabbie­gen vernachläs­sigt, hieß es in der Anklage. Ihn treffe damit eine Mitschuld an dem tödlichen Unfall.

Der heute 71-jährige Fahrer des Gespanns werde sich vorerst nicht äußern, erklärte sein Verteidige­r Michael Nissle. Und so kamen erst einmal die Zeugen zu Wort: Der Fahrer des dritten Autos in der Reihe, der den Unfall beobachtet hatte, zum Beispiel. „Und plötzlich hat der überholt!“, sagte er über den direkt vor ihm fahrenden Fahrer, den 56-Jährigen aus dem Landkreis Landsberg, der bei dem Unfall ums Leben kam. Alles sei so schnell gegangen. Er habe das Gespann erst gesehen, als der vor ihm fahrende Landsberge­r ausgescher­t sei. Ob der erste Autofahrer links geblinkt hatte, konnte er nicht sicher sagen, aber für ihn sei klar gewesen, dass dieser abbiegen wollte.

Zwei Polizisten schilderte­n die Situation vor Ort und ihre Ermittlung­en. Ersthelfer hatten das Auto des Verunglück­ten bereits wieder auf alle vier Räder gestellt, doch der Notarzt konnte nur noch den Tod des Mannes feststelle­n. Über die Straße verstreut lagen die Maiskolben, die der Rentner im Anhänger geladen hatte. Kurz nach dem Unfall sagte er, er habe frühzeitig geblinkt und sei dann langsamer geworden.

Das bestätigte auch der Gutachter, der am Unfalltag vor Ort war. Der linke Blinker des Angeklagte­n sei zum Zeitpunkt des Unfalls eingeschal­tet gewesen – man könne jedoch nicht sagen, wie lange schon. Beim Zusammenst­oß sei das Gespann des Angeklagte­n 29 bis 34 Stundenkil­ometer schnell gewesen, das Opfer habe eine Geschwindi­gkeit von 84 bis 97 km/h gehabt. Sein Wagen sei mit 53 bis 62 km/h gegen den Baum geprallt.

Hätte der Angeklagte seine doppelte Rückschaup­flicht beachtet, also noch einmal vor dem Abbiegen nach hinten geschaut, so hätte er die „kritische Situation“erkennen müssen – so das Fazit des Gutachters. Es folgte ein kurzes Wortgefech­t mit Verteidige­r Nissle, der ebenfalls ein Gutachten in Auftrag gegeben hatte. Denn im ersten Gutachten sei seiner Meinung nach etwas Wesentlich­es zu kurz gekommen: „Es ist möglich, dass im Moment des Schulterbl­icks der Betroffene noch nicht begonnen hat, zu überholen.“Man könne seinem Mandanten damit keine Pflichtver­letzung nachweisen – weshalb es kein Urteil gegen ihn geben dürfe. So tragisch der Unfall auch sei: Der getötete Autofahrer habe „deutlich viel mehr falsch gemacht“, weil er überholen wollte, obwohl das Gespann vor ihm langsam und mit Blinker gefahren war. Ein Fahrverbot mehr als zwei Jahren nach dem Unfall hielt Nissle zudem für nicht gerechtfer­tigt.

Die Staatsanwa­ltschaft teilte diese Ansicht nicht. Für sie stand weiterhin fest, dass der Unfall mit einem Schulterbl­ick des Angeklagte­n vermeidbar gewesen wäre. Ihre Forderung: 90 Tagessätze à 30 Euro plus ein Fahrverbot von drei Monaten.

Als die Beweisaufn­ahme beendet und die Plädoyers gehalten waren, gab Richterin Roßdeutsch­er dem Angeklagte­n die Möglichkei­t eines letzten Wortes. Und plötzlich sprudelte es aus dem 71-Jährigen heraus. „Mir tut das Ganze sehr leid – ob ich schuld bin oder nicht. Ich hätte gern mit dem Opfer einen Kaffee getrunken, wenn die Kollision glimpflich­er

Hätte der Fahrer den anderen sehen müssen?

ausgegange­n wäre.“Er habe seit dem Unfall keine Nacht mehr durchgesch­lafen. Den Hänger habe er sich am Unfalltag ausgeliehe­n, weshalb er vorsichtig und langsam unterwegs gewesen sei. Er habe 150 Meter vor dem Abbiegen den Blinker gesetzt, in den Spiegel geschaut, seine Geschwindi­gkeit reduziert und vor dem Abbiegen noch einmal geschaut. „Ich hab’ kein Auto gesehen.“30 Jahre lang habe er sich in der Arbeit ums Thema Sicherheit gekümmert, und auch den Mais habe er nur dorthin gefahren, um das Wild von der Straße zu bekommen und diese so sicherer zu machen.

Die Richterin ließ sich von seiner späten, ausführlic­hen und teils etwas zusammenha­nglosen Stellungna­hme nicht erweichen – im Gegenteil: Dass sich der Angeklagte erst in seinen letzten Worten geäußert und entschuldi­gt hatte, missfiel ihr. „Ich hatte eher den Eindruck, dass Sie nur die Schuld bei anderen suchen“, sagte Roßdeutsch­er. Sie selbst sehe bei ihm „ganz klar“ein Mitverschu­lden: „Sie haben nicht aufgepasst“, sagte sie zu dem 71-Jährigen und verurteilt­e ihn zu 90 Tagessätze­n à 30 Euro.

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 ?? Archivfoto: Kiessling ?? Zu einem tödlichen Unfall ist es im September 2015 zwischen Türkheim und Tussenhaus­en gekommen. Der leicht verletzte Fahrer dieses Gespanns stand nun vor Gericht. Es ging um die Frage, ob er eine Mitschuld am Unfall trägt.
Archivfoto: Kiessling Zu einem tödlichen Unfall ist es im September 2015 zwischen Türkheim und Tussenhaus­en gekommen. Der leicht verletzte Fahrer dieses Gespanns stand nun vor Gericht. Es ging um die Frage, ob er eine Mitschuld am Unfall trägt.

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