Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (57)
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebensbestimmung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schaden
„M ein Pech für den armen alten Tommy.“
„Das ist doch ganz egal. Wenn du nicht auf die Idee gekommen wärst, sie zu suchen, hätten wir sie auch nicht finden können. Ich hatte diese Fundbüro-Geschichte schon vollständig vergessen. Meine Stimmung war sowieso im Keller, nachdem Ruth so dahergeredet hat. Judy Bridgewater. Meine alte Freundin. Es ist, als wäre sie nie weggewesen. Wer sie damals wohl gestohlen hat?“
Wir drehten uns beide zur Straße und hielten einen Moment lang Ausschau nach den anderen.
„Weißt du“, sagte Tommy dann, „ich hab schon gemerkt, wie sehr dich das durcheinander gebracht hat, was Ruth vorhin gesagt hat…“
„Lass, Tommy. Jetzt ist alles wieder gut. Und ich habe nicht die Absicht, sie drauf anzusprechen, wenn sie kommt.“
„Nein, das meine ich nicht.“Er rückte vom Auto ab, drehte sich um und stemmte einen Fuß gegen den Vorderreifen, wie um ihn zu prüfen.
„Ich meine etwas anderes. Nämlich dass ich in dem Moment, als Ruth mit alldem herausgerückt ist, da hab ich begriffen, warum du dir ständig diese Pornoheftchen anschaust. Okay, nicht begriffen. Es ist nur eine Theorie. Noch eine von meinen Theorien. Aber als Ruth das vorhin gesagt hat, da ist irgendwie der Groschen gefallen.“
Ich spürte, dass er mich ansah, aber ich starrte nur geradeaus und gab keine Antwort.
„Aber ich kapier’s noch immer nicht ganz, Kath“, sagte er schließlich. „Selbst wenn es stimmt, was Ruth behauptet, und das glaub ich persönlich nicht, warum durchsuchst du dann alte Pornoheftchen nach deinen Möglichen? Wie kommst du auf die Idee, dass dein Modell eines dieser Mädchen sein kann?“
Ich zuckte nur mit den Schultern, noch immer ohne ihn anzusehen. „Ich sage ja nicht, dass es vernünftig ist oder logisch. Ich tu’s einfach.“Jetzt stiegen mir die Tränen in die Augen, und ich versuchte sie vor Tommy zu verbergen, aber es war ein Zittern in meiner Stimme, als ich sagte: „Wenn es dich so nervt, lass ich’s bleiben.“
Ich weiß nicht, ob Tommy meine Tränen bemerkte, jedenfalls hatte ich mich wieder unter Kontrolle, als er zu mir trat, mir den Arm um die Schultern legte und mich an sich drückte. Das war nichts Neues oder Besonderes, er hatte es schon früher manchmal getan. Aber irgendwie ging es mir sofort besser, und ich lachte ein bisschen. Da ließ er mich wieder los, aber wir blieben so dicht beieinander, dass wir uns fast berührten, und standen wieder Seite an Seite mit dem Rücken zum Auto.
„Okay, es ist sinnlos“, sagte ich. „Aber wir tun es doch alle, nicht? Wir alle zerbrechen uns den Kopf über unser Modell. Schließlich sind wir deswegen heute hier. Wir alle tun es.“
„Ich hab niemandem was davon gesagt, Kath, das weißt du, oder? Dass ich dich im Boilerhaus gesehen habe. Weder Ruth noch sonst wem. Aber ich kapier’s nicht. Ich versteh einfach nicht, wieso.“
„Also gut, Tommy. Ich sag’s dir. Du wirst es vielleicht genauso wenig verstehen, wenn du’s weißt, aber du kannst es trotzdem wissen. Es ist so, dass ich manchmal, selten, einen ungemein starken Drang nach Sex habe, ich weiß auch nicht – manchmal überkommt es mich einfach, und eine Stunde oder zwei ist es wirklich unheimlich.
Das geht so weit, dass ich es direkt mit dem alten Keffers tun könnte, so schlimm ist es. Und das ist der Grund… das ist der einzige Grund, wieso ich es mit Hughie gemacht habe. Und mit Oliver. Innerlich hat es mir überhaupt nichts bedeutet. Ich mag sie nicht mal besonders. Ich weiß nicht, was das ist, und nachher, wenn es wieder vorbei ist, macht es mir einfach Angst. Deswegen bin ich auf die Idee gekommen, dass es ja von irgendwoher kommen muss. Es muss damit zu tun haben, wie ich bin.“Ich hielt inne, aber als Tommy nichts sagte, fuhr ich fort: „Also dachte ich, wenn ich in einem dieser Hefte ihr Bild finde, wäre es zumindest eine Erklärung. Ich würde bestimmt nicht hingehen und sie suchen oder so – es würde nur, du weißt schon – es wäre eine Art Erklärung, warum ich so bin, wie ich bin.“
„Aber mir geht es manchmal genauso“, sagte Tommy.
„Dass ich wirklich wahnsinnig Lust drauf habe. Wahrscheinlich geht es allen so, wenn sie ehrlich sind. Ich glaube nicht, dass bei dir irgendwas anders ist, Kath. Eigentlich geht es mir sogar ziemlich oft so…“Er brach ab und lachte, aber ich stimmte nicht mit ein. „Ich meine was anderes“, sagte ich. „Ich hab euch beobachtet, euch alle. Ihr bekommt Lust auf Sex, aber das heißt noch nicht, dass ihr alles dafür tätet. Nicht so wie ich – dass ich mit diesem Hughie gegangen bin…“
Beinahe hätte ich schon wieder zu weinen angefangen, weil ich wieder Tommys Arm um meine Schultern spürte. Aber so aufgewühlt ich war, blieb ich mir doch bewusst, wo wir waren, und ich vergewisserte mich insgeheim, dass kein Anlass zu Missverständnissen bestand, wenn Ruth und die anderen jetzt die Straße entlang kämen, selbst wenn sie uns in diesem Moment sähen. Wir standen nebeneinander ans Auto gelehnt, und sie würden sehen, dass ich wegen irgendwas durcheinander war und Tommy mich eben tröstete. Dann hörte ich ihn sagen:
„Ich glaube nicht, dass das unbedingt schlecht sein muss. Wenn du erst mal jemanden gefunden hast, Kath, jemanden, mit dem du wirklich zusammensein willst, dann könnte es richtig gut sein. Weißt du noch, was uns die Aufseher immer gesagt haben? Wenn es der Richtige ist, dann macht es dich wirklich glücklich.“
Ich machte eine Bewegung mit der Schulter, wie um Tommys Arm abzuschütteln, dann holte ich tief Luft. „Vergessen wir das Ganze. So oder so hab ich diese Stimmungen, wenn sie mich überkommen, immer besser unter Kontrolle. Also vergessen wir’s einfach.“
„Trotzdem, Kath, es ist bescheuert, diese ganzen Hefte durchzublättern.“
„Es ist bescheuert, okay. Tommy, lassen wir das. Jetzt geht’s schon wieder.“
Ich weiß nicht, worüber wir uns noch unterhielten, bis die anderen aufkreuzten. Jedenfalls sprachen wir nicht mehr über diese ernsten Themen, und falls die anderen gespürt haben sollten, dass noch etwas in der Luft lag, so sagten sie doch nichts dazu. Sie waren bester Laune, und vor allem Ruth schien entschlossen, ihren Auftritt von vorhin wieder wettzumachen. Sie kam auf mich zu, berührte meine Wange, machte den einen oder anderen Scherz, und als wir wieder im Auto saßen, sorgte sie dafür, dass die vergnügte Stimmung anhielt. Sie und Chrissie hatten Martin urkomisch gefunden, alles an ihm, und nutzten es weidlich aus, dass sie jetzt, nachdem sie seine Wohnung verlassen hatten, offen über ihn lachen konnten. Rodney schien das nicht recht zu sein, und ich merkte, dass Ruth und Chrissie vor allem deshalb so ein großes Trara darum machten, weil sie ihn aufziehen wollten.