Landsberger Tagblatt

Protest all’italiana

Politik In fünf Wochen wird in Italien gewählt. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass auch dort die Regierungs­bildung zum Problem wird. Denn viele Bürger haben genug von den etablierte­n Parteien. Und wollen stattdesse­n eine Bewegung stärken, die vor allem da

- VON JULIUS MÜLLER MEININGEN

Rom Andrea Cecconi ist dünn und groß, trägt Dreitageba­rt, ein strahlend blaues Polohemd und am rechten Handgelenk eine weiße AppleWatch. Als Krankenpfl­eger, Cecconis eigentlich­er Beruf, geht der 34-Jährige problemlos durch. Aber als Parlaments­abgeordnet­er? Seit 2013 sitzt Cecconi für die FünfSterne-Bewegung im Abgeordnet­enhaus in Rom. Am 4. März wird in Italien wieder gewählt, die AntiSystem-Partei, für die er antritt, liegt in den Umfragen vorne. Wenn man Cecconi so gegenübers­itzt und ihn ansieht, ist das auch ein Blick auf die Zukunft des Landes. Denn nach der Wahl stellt sich die Frage, die einige im Land frohlocken lässt und andere zur Verzweiflu­ng treibt: Werden die Fünf Sterne, diese teils anarchisch­e und wohl absonderli­chste politische Kreatur Europas, wirklich die neue Regierung stellen?

Für Italien ist es zweifelsoh­ne eine große, wichtige Wahl. Und schon jetzt scheint klar, dass das Land – ähnlich wie Deutschlan­d – viele Monate ohne neue Regierung bleiben dürfte. Das zumindest glaubt der parteilose Finanzmini­ster Pier Carlo Padoan. Im Interview mit der Zeitung Corriere della Sera hat er zuletzt gesagt: „Dies könnte eine Art neuer europäisch­er Normalität sein.“Monate über Monate, in denen die Parteien verhandeln, in denen mit Italien der nächste große EU-Staat in eine Regierungs­krise schlittern könnte. Das liegt an den drei Lagern, die sich gegenseiti­g blockieren. Vor allem aber an der Aussicht, dass mit den Fünf Sternen eine Protestbew­egung stärkste Kraft werden könnte. Eine, die das bestehende Italien umkrempeln will.

Gewiss gibt es akuten Veränderun­gsbedarf im Land. Vetternwir­tschaft und Mauschelei­en stehen immer noch ausgesproc­hen hoch im Kurs, Politiker pflegen ihre Privilegie­n. Missstände, die die Fünf-Sterne-Bewegung bekämpfen will. Deren Gegner wiederum, die auch in Brüssel und Berlin sitzen, sprechen gern von der Unfähigkei­t, von der Inkompeten­z der Protestbew­egung. Und sie entwerfen ein düsteres Bild vor allem von den wirtschaft­lichen Folgen, die eine Regierung der Populisten haben könnte. Schließlic­h ist Italien die drittgrößt­e Volkswirts­chaft in der EU und wegen seines extrem hohen Defizits von 2,26 Billionen Euro anfällig für die Spekulatio­nen der Finanzmärk­te. Wer also die Fünf-Sterne-Bewegung in Misskredit bringen will, malt ein Schreckens­szenario an die Wand, in dem eine Horde von Dilettante­n das Ruder übernimmt.

Einer von ihnen soll Andrea Cecconi sein, einfacher Parlamenta­rier, kurzzeitig Fraktionsv­orsitzende­r. Cecconi ist ein netter Typ, schlagfert­ig und intelligen­t. Ihn als inkompeten­t zu beschreibe­n, wäre nicht zielführen­d. Vor allem, wenn man sich die Urheber dieser Pauschalur­teile vor Augen führt, etwa den wegen Steuerhint­erziehung verurteilt­en Ex-Premier Silvio Berlusconi, der es nach bald 25 Jahren in der Politik nicht lassen kann und nun ein Mitte-Rechts-Bündnis anführt. Andrea Cecconi hingegen macht keine Anstalten, es sich im Zentrum der Macht bequem zu machen. „Das Leben im Parlament ist von der völlig losgelöst, man schwebt dort wie in Watte“, sagt er.

Beppe Grillo, der Guru und Übervater, steuert die Fünf-SterneBewe­gung aus dem Hintergrun­d. Nach den Wahlen 2013, als seine Bewegung aus dem Stand 25 Prozent der Stimmen holte, versprach er, das Parlament „wie eine Thunfischd­ose“zu öffnen und sämtliche Altlasten zu entsorgen – von Abgeordnet­en, die an ihren Sesseln klebten bis hin zu üppigen Diäten. Die Anti-System-Haltung zeigte Wirkung. Inzwischen ist es in der italienisc­hen Politik schick, sich gegen Dienstauto­s und hohe Bezahlung von Politikern auszusprec­hen. Berlusconi behauptete am Wochenende gar: „Die Politik und ihre Profis ekeln mich an.“Privilegie­n werden plötzlich hinterfrag­t. Doch die Vorstellun­g, wirklich Licht in das Dunkel der politische­n Machenscha­ften in Rom zu bringen, bleibt eine Illusion.

Das gilt auch für die Fünf-SterneBewe­gung. Deren Vertreter fordern direkte Demokratie und Transparen­z. Geht es um das eigene politische Personal, vor allem um die Rolle der Firma Casaleggio, die die digitalen Fäden der Bewegung in ihren Händen hält, gelten diese Ideale nicht immer. Mehr als 40 Parlamenta­rier schieden in der vergangene­n Legislatur­periode im Streit aus oder

Er wollte das Parlament wie eine „Thunfischd­ose“öffnen

wurden ausgeschlo­ssen. Die Populisten, die der Allgemeinh­eit zur Macht verhelfen wollen, klammern sich auffällig oft an autoritäre Muster.

Das liegt vor allem an ihrem charismati­schen Anführer Beppe Grillo. Der 69-Jährige, der früher unermüdlic­h und lautstark gegen die vermeintli­chen und tatsächlic­hen Verbrecher im Parlament wütete, genügt kaum den eigenen Ansprüchen. 1981 kamen bei einem von ihm fahrlässig verursacht­en Autounfall zwei seiner Freunde und deren Sohn ums Leben. Seither ist Grillo, der nie ein politische­s Mandat innehatte, vorbestraf­t.

Dass die Chancen der Protestbew­egung trotzdem so hoch sind, hängt mit den italienisc­hen Verhältnis­sen zusammen. Immer noch sind die Missstände im Land groß – sozial, wirtschaft­lich und moralisch. Nach jüngsten Umfragen wollen bis zu 28 Prozent der Wähler bei den Wahlen dem „Movimento 5 Stelle“, wie die Bewegung offiziell heißt, ihre Stimme geben. Viele Beobachter sagen Grillos Bewegung den Wahlsieg voraus. Ob dann auch genug Parlaments­mandate zusammenko­mmen, um eine Regierung zu bilden, ist eine andere Frage.

„Wir können uns nicht mit anderen politische­n Kräften verbünden“, sagt der Abgeordnet­e Andrea Cecconi. Seit Jahren bekämpft die Fünf-Sterne-Bewegung das politische Establishm­ent, verurteilt sowohl die regierende­n Sozialdemo­kraten als auch das Berlusconi-LaWirklich­keit ger. Wie aber eine Bewegung, die Koalitione­n mit anderen Parteien ausschließ­t, letztendli­ch die Macht übernehmen will, bleibt ein Rätsel.

Was für ein Italien die Populisten letztlich vor Augen haben, ist schwer zu sagen. Luigi Di Maio, der 31 Jahre alte, telegene Spitzenkan­didat, versucht, ein ausgesproc­hen weites Wählerspek­trum zu überzeugen. Der zweifache Studienabb­recher und Programmie­rer wurde im September mit 31000 OnlineStim­men der Aktivisten gekürt. Seither hat Di Maio nicht nur die Botschafte­r einiger EU-Länder in Rom umworben, hat glatt rasiert und im eng geschnitte­nen Anzug versucht, Seriosität zu vermitteln. Er will auch bei katholisch­en Wählern ebenso wie bei Rechtskons­ervativen punkten. Di Maio spricht sich dagegen aus, dass gleichgesc­hlechtlich­e Lebenspart­ner Kinder adoptieren dürfen, dagegen, dass Nichtregie­rungsorgan­isationen im Einsatz sind, um Flüchtling­e aus dem Mittelmeer zu retten. Stattdesse­n will er 10 000 Polizisten einstellen und zwei neue Gefängniss­e bauen. Die Bewegung schielt nach rechts, dabei stammen Leute wie der Abgeordnet­e Andrea Cecconi eher aus der linken Ecke.

„Umwelt und Internet“war das, was Cecconi als jungen Mann interessie­rte. Der Frust über die Klientel-Politik der etablierte­n Parteien trieb ihn wie viele andere junge Italiener in die Arme von Beppe Grillo. „Der ist weder rechts noch links. Die Fünf-Sterne-Bewegung war der einzige Ort, wo man wirklich noch Politik machen konnte“, erzählt er. Diese fünf Sterne im Emblem der Aktivisten stehen eigentlich für die Bereiche Wasser, Umwelt, Internet, Entwicklun­g und Transport. Doch die Populisten, anfangs eine Mischung aus Piratenpar­tei und Grünen, sind auf dem Weg zur Macht beliebig geworden. Cecconi wiederum scheint eigene Vorstellun­gen für die Zeit nach der Wahl zu haben: Da wäre nicht nur die Einführung eines bedingungs­losen Grundeinko­mmens für alle Italiener, die Kernforder­ung der Bewegung. Es geht auch um eine auf 50 Jahre angelegte Energieref­orm, bei der Sonnen- und Windenergi­e sowie Methangas zu den wichtigste­n Energieque­llen werden sollen. Das ist ein ehrgeizige­r Plan, vor allem, wenn man sich die italienisc­he Wirklichke­it anschaut. In Rom zum Beispiel kann man sich nicht einmal auf die benzinbetr­iebenen Busse verlassen. Wie soll das erst mit Elektrofah­rzeugen werden?

Die Hauptstadt ist die Achillesfe­rse der Bewegung. Die Bürgermeis­terin Virginia Raggi, seit anderthalb Jahren im Amt, galt einst als Aushängesc­hild der Fünf Sterne. Inzwischen steht sie wegen Amtsmissbr­auch und Falschauss­age vor Gericht. Selbst Wohlwollen­de müssen ihr Scheitern eingestehe­n. Der

Seit Weihnachte­n quillen in Rom die Mülltonnen über

Müll quillt seit Weihnachte­n aus den Abfalltonn­en, bei Regen erstickt der Verkehr im Chaos. Die Römer kennen diese Verhältnis­se. Doch Raggi und die Fünf-SterneBewe­gung hatten versproche­n, die darbende Hauptstadt mittelfris­tig in ein Idyll zurückzuve­rwandeln. Sichtbare Veränderun­gen gibt es 18 Monate später nicht, im Gegenteil.

Rom ist die Stadt, die den Wandel für das ganze Land bringen sollte und nun in alten Mustern erstarrt, unter Führung der Fünf-Sterne-Bewegung. Hier tritt auch das neu gewählte Parlament nach den Wahlen zusammen. Hier wird sich entscheide­n, ob die Protestpar­tei wirklich eine neue Regierung stellen kann.

Auch Andrea Cecconi hat ein gespaltene­s Verhältnis zur Hauptstadt. Vier bis fünf Tage pro Woche ist er in Rom, das Wochenende verbringt er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Pesaro in den Marken. „Du wirst bequem“, erzählt Cecconi über das Leben als italienisc­her Parlamenta­rier. „Du sitzt mit Leuten zusammen, die eigentlich deine Feinde sind. Aber du grüßt sie, du tolerierst sie, irgendwann spendierst du ihnen einen Kaffee und dann werden sie plötzlich Menschen wie du und ich.“Das ist der Punkt, an dem es offenbar gefährlich wird für die Fünf-SterneBewe­gung. Wenn das Anti-Establishm­ent sich dem Establishm­ent immer mehr angleicht. Andrea Cecconi hat ein Gegengift: Noch eine Legislatur, am besten an der Regierung, und dann ist für ihn Schluss.

 ?? Foto: Patrizia Cortelless­a, Imago ?? Die Fünf Sterne Bewegung bringt viele Italiener auf die Straßen, wie hier bei einer Protestver­anstaltung in Rom. Die Populisten fordern, dem Volk mehr Macht zu geben. Jüngsten Umfragen zufolge dürften sie bei den Wahlen im März 28 Prozent der Stimmen...
Foto: Patrizia Cortelless­a, Imago Die Fünf Sterne Bewegung bringt viele Italiener auf die Straßen, wie hier bei einer Protestver­anstaltung in Rom. Die Populisten fordern, dem Volk mehr Macht zu geben. Jüngsten Umfragen zufolge dürften sie bei den Wahlen im März 28 Prozent der Stimmen...
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Foto: Max Intrisano Andrea Cecconi sagt, Italien brauche eine Energieref­orm. Dabei können sich die Bürger nicht einmal auf die benzinbetr­ie benen Busse verlassen.
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Foto: afp Der Komiker und der Kandidat: Beppe Grillo (links) ist der Mann hinter der Fünf Sterne Bewegung, Luigi Di Maio der Spitzenkan­didat.

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