Heute ist die Berliner Mauer schon so lange weg, wie sie zuvor stand
Hintergrund Die Koalitionsverhandlungen ziehen sich in die Länge. Die Union tut sich schwer, der SPD weiter entgegenzukommen. Doch die braucht Zugeständnisse für ihren Mitgliederentscheid
Berlin Guten Gewissens gönnt sich Julia Klöckner eine Pause von den Koalitionsverhandlungen: „Wir beten für die Große Koalition“, sagt sie, als sie vom Willy-Brandt-Haus zusammen mit Kultur-Staatsministerin Monika Grütters zum 12-UhrGottesdienst in der katholischen Ludwigskirche in Berlin-Wilmersdorf davonfährt. Beistand von ganz oben, glauben die beiden christdemokratischen Frauen, kann dem Endspurt der Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD sicher nicht schaden.
Nach dem ursprünglichen Zeitplan sollten die Gespräche über die Regierungsbildung am Sonntag abgeschlossen werden. Doch am Nachmittag wird klar, dass CSUChef Horst Seehofer den ICE nach München um 16.05 Uhr nicht nehmen wird, wie es Generalsekretär Andreas Scheuer zuvor wohl eher scherzhaft angekündigt hatte, um die Verhandlungen etwas zu beschleunigen. Ohnehin lässt sich Seehofer, dem eine Abneigung gegenüber Flugzeugen nachgesagt wird, meist mit dem Auto zwischen München und Berlin chauffieren.
Mobilität hatte auch bei den Beratungen am Samstag eine große Rolle gespielt. Die in vielen Städten drohenden Fahrverbote für Autos mit Dieselmotoren wollen die Koalitionäre in spe verhindern, den Ausbau der Elektromobilität dagegen beschleunigen: Rund elf Stunden hatten die Koalitionsgespräche am Samstag zuvor gedauert. Ein übernächtigt wirkender SPD-Chef Martin Schulz berichtet am Sonntag, dass sich die Vertreter von CDU, CSU und SPD dabei in vielen Punkten einig geworden seien. Allerdings eben noch längst nicht in allen. „Bei den Mieten, bei der sachgrundlosen Befristung und beim Abbau der Zweiklassenmedizin“sieht Schulz noch erheblichen Gesprächsbedarf.
Schulz bekräftigt seinen Satz, die SPD kenne in den Gesprächen „keine roten Linien“, wolle aber „möglichst viel rote Politik durchsetzen“. Und kündigt einen „sehr, sehr intensiven Verhandlungstag“an. Alle Verhandlungsteilnehmer haben sich da bereits verständigt, Montag und Dienstag als „Puffertage“frei von anderen Terminen zu halten.
CDU-Chefin Angela Merkel beschränkt sich auf ganz wenige Worte. Wichtige Punkte seien noch offen, sie erwarte „schwere Verhandlungsstunden“. Wenig später dringt durch, dass sich Union und SPD auf ein Milliarden Euro schweres Programm zur Schaffung von mehr bezahlbarem Wohnraum verständigt haben. Wie schon zuvor gilt auch hier: Wo beide Seiten durch den großzügigen Einsatz von Steuermilliarden ihre jeweiligen Wünsche durchbringen können, sind Kompromisse nicht allzu schwer zu erzielen. In anderen Feldern gibt es größere Hürden. Und das trifft auf zwei Themen zu, die am Sonntag noch heftig umstritten sind.
Ein Herzensanliegen der SPD ist die Abschaffung der Zweiklassenmedizin. Ihre Maximalforderung ist es, das bisherige System des Nebeneinanders von gesetzlicher und privater Krankenversicherung durch eine einheitliche Bürgerversicherung abzulösen. Doch dagegen gibt es heftigsten Widerstand der Union. Es geht also darum, die Situation der Kassenpatienten im Vergleich zu den Privatversicherten zu verbessern. Etwa durch eine Reform der Arzthonorare oder durch Maßnahmen, die dazu beitragen, dass Kassenpatienten schneller Arzttermine bekommen.
Abschaffen will die SPD auch die Möglichkeit, Arbeitsverträge ohne „Sachgrund“zu befristen. Die Union dagegen, vor allem die Arbeitgeber in CDU und CSU, halten flexible Befristungsregeln für unverzichtbar. Dass Kompromisse aber etwa bei den umstrittenen Kettenbefristungen möglich sind, hatte die Union bereits angedeutet, die sich auch in ihrem Wahlprogramm dazu bekennt, Auswüchse bei der Befrisschleppenden tung zu unterbinden. Doch Fraktionschefin Andrea Nahles, die die Gespräche zu dem Thema für die Genossen leitet, hatte ja bekanntlich angekündigt, die SPD werde „verhandeln, bis es quietscht“. Dies, so sagt die SPD-Vizechefin am Sonntag, werde ihre Partei auch in einem weiteren Punkt tun: bei der Stärkung der ländlichen Räume. Hier erwarte sie stärkeres Entgegenkommen von der Union.
Dass es Zugeständnisse geben muss, ist den Verhandlern von CDU und CSU klar. Denn eine Einigung mit der SPD auf einen Koalitionsvertrag bedeutet noch nicht, dass ein
Vorsorglich gibt es Puffertage bis Dienstag
Steuermilliarden machen Kompromisse einfach
schwarz-rotes Regierungsbündnis dann auch zustande kommt. Denn das letzte Wort hat die SPD-Basis. Ein Koalitionsvertrag soll den rund 440000 Parteimitgliedern zur Abstimmung vorgelegt werden.
Als es dunkel ist in Berlin wird deutlich, dass es offenbar tatsächlich noch massiv quietscht in den Koaistionsverhandlungen. Die Gespräche sollen bis weit in die Nacht weitergehen und am heutigen Montag fortgesetzt werden, so dringt es am Abend aus dem Willy-Brandt-Haus. Ob die Gebete von Julia Klöckner erhört werden, muss sich erst noch zeigen.