Landsberger Tagblatt

Papa ist im Krieg geblieben

Zweiter Weltkrieg Noch immer fehlt von mehr als 1,3 Millionen deutschen Opfern jede Spur. Viele Angehörige leiden unter der Ungewisshe­it und geben die Suche nach den verscholle­nen Verwandten nicht auf. Zu Recht, wie der Fall von Paul Miehling zeigt

- VON MICHAEL BÖHM

Meitingen/München „Mach’ dir keine Sorgen, ich komm’ bald wieder!“Man kann sich gut vorstellen, wie Paul Miehling seiner Frau in die Augen sieht, als er die Worte zu ihr sagt. Wie er sie in den Arm nimmt, sie küsst, der gerade einmal acht Monate alten Tochter Gisela über den Kopf streichelt. Wie er durch die Haustüre hinaus auf die Straße tritt, ein paar Schritte geht und sich noch ein letztes Mal umdreht. Er winkt – und verschwind­et.

Für immer.

Es ist ein Tag im Frühling 1945. Paul Miehling ist 31 Jahre alt und Soldat. Oberfeldwe­bel, um genau zu sein. Einige Jahre zuvor, noch während seiner Ausbildung zum Mechaniker in Donauwörth, seinem Geburtsort, hat der blonde, drahtige junge Mann beschlosse­n, sich der Wehrmacht anzuschlie­ßen. 1933 kam er nach Landsberg, wurde zum Funker und Fahrer ausgebilde­t. Kurze Zeit später meldete er sich freiwillig bei der Luftwaffe. Er wurde Flugzeug-Mechaniker, 1938 ließ er sich auf eigenen Wunsch nach Gablingen im Landkreis Augsburg versetzen. Ein Jahr später heiratete er seine Frau Cäcilie aus dem nahe gelegenen Biberbach. Kurz danach begann der Zweite Weltkrieg.

An der Front kämpfte Miehling für das Deutsche Reich gegen Frankreich und Russland. In der Heimat bangte die Ehefrau um sein Leben. Im Juli 1944 kam die gemeinsame Tochter zur Welt.

In jenem Frühling im Jahr 1945 ist der mit dem „Kriegsverd­ienstkreuz zweiter Klasse mit Schwertern“ausgezeich­nete Soldat auf Heimaturla­ub. Die junge Familie genießt ihr Glück. Bis zu jenem Tag, an dem Paul Miehling zurück in den Krieg muss und er seiner Frau verspricht, bald wiederzuko­mmen. Wenige Wochen später ist der Krieg vorbei. Doch sein Verspreche­n wird der junge Familienva­ter nicht halten. „Wir haben nie wieder etwas von ihm gehört“, wird seine Tochter Gisela Riediger, geborene Miehling, mehr als 70 Jahre später erzählen. Kein Brief, keine Nachricht, kein Lebenszeic­hen. An den Tod ihres Vaters wollen sie und ihre Mutter lange nicht glauben. „Er war bei uns immer ein Thema. Meine Mutter war sich sicher, dass er wieder zurückkomm­t. Er hatte es ja versproche­n.“

Cäcilie Miehling schreibt unzählige Briefe an unzählige Adressen. Fragt, wo ihr Mann ist, ob ihn jemand gesehen hat, ob er lebt, ob irgendjema­nd irgendetwa­s weiß. Im Laufe der Jahre stapeln sich die Briefe im Haus ihres Vaters, einem Kaminkehre­rmeister aus Biberbach, der ihr und Tochter Gisela ein Obdach gibt. Auf erlösende Antworten wartet sie jedoch vergeblich. Jahrelang. Schweren Herzens lässt sie ihren Ehemann im Jahr 1959 offiziell für tot erklären. Einen neuen Mann lässt sie nicht mehr in ihr Leben – immer in der Hoffnung, dass „ihr“Paul doch noch eines Tages zurückkomm­t. Sie selbst stirbt 1988.

Wie Cäcilie Miehling erging es vielen Menschen. Rund 14 Millionen von ihnen wandten sich kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs an den Suchdienst des Deutschen Kreuzes, der sich das Aufspüren von vermissten, verschlepp­ten, vertrieben­en und getöteten Menschen zur Aufgabe gemacht hat. 1959 waren es noch 2,5 Millionen offene Suchanfrag­en. Nun lagern immer noch mehr als 1,3 Millionen ungeklärte Fälle von seit dem Krieg vermissten Personen beim deutschen Suchdienst in München. „Die allermeist­en dieser Schicksale werden wir nicht mehr klären können“, prophezeit Standortle­iter Thomas Huber. In den vergangene­n Jahrzehnte­n seien Millionen von Akten gesucht, gesammelt, archiviert und digitalisi­ert worden. Von Dokumenten aus privatem Besitz bis hin zu Listen mit Insassen russischer Gefangenen­lager. Allein die „Zentrale Namenskart­ei“, in der sowohl die gesuchten als auch die suchenden Personen vermerkt sind, umfasst laut Huber rund 50 Millionen – mittlerwei­le digitale – Karteikart­en. Die bis dato letzten Akten, mit denen die Schicksale von deutschen Soldaten nachvollzo­gen werden können, kamen vor rund zehn Jahren aus Russland nach München.

„Es gibt bald keine Stellen mehr, an denen wir noch nach Vermissten suchen können. Unsere Quellen sind erschöpft“, erklärt Huber. Aus diesem Grund und weil die Verantwort­lichen mehr als 70 Jahre nach dem Krieg ohnehin mit einem Rückgang der Nachfragen rechnen, stellt der vom Bund beauftragt­e und geförderte Suchdienst des Roten Kreuzes voraussich­tlich im Jahr 2023 seine Arbeit ein. Bislang sei von einem Rückgang allerdings nicht viel zu spüren, sagt Huber. Noch immer erreichen den Suchdienst jährlich rund 9000 Anfragen von Geschwiste­rn, Kindern, Enkeln oder anderweiti­g Verwandten, die gerne wüssten, was mit ihren Vätern, Onkeln oder Großvätern im Zweiten Weltkrieg passiert ist.

Gerade in diesen Tagen, in denen sich das Ende der Schlacht von Stalingrad – die als Wendepunkt des Krieges gilt und bei der zehntausen­de deutsche Soldaten zu russischen Gefangenen wurden – zum 75. Mal jährte, rechnen Huber und seine Kollegen verstärkt mit neuen Anfragen. „Für viele Angehörige ist das immer noch ein weißer Fleck auf der Familienla­ndkarte“, erzählt Thomas Huber.

So wie für Jörg Riediger. Der Versicheru­ngskaufman­n aus Meitingen (Landkreis Augsburg) wollte sich nicht damit abfinden, dass es vom Verbleib seines Großvaters, Paul Miehling, keine Spuren geben soll. „Er war die große Liebe meiner Oma, eine der tollsten Frauen überRoten haupt“, sagt der 40-Jährige, der sich deswegen vor wenigen Jahren erneut auf die Suche machte. Mit den wenigen Dingen, die er über seinen Großvater wusste, füllte er im Internet das Formular des Suchdienst­es aus – und war mehr als überrascht, als Monate später plötzlich Post aus München in seinem Briefkaste­n lag. Die Such-Experten des Roten Kreuzes waren tatsächlic­h erfolgreic­h: In „neuen“Unterlagen aus den Archivbest­änden der Russischen Föderation spürten sie Aufzeichnu­ngen zu Paul Miehling auf.

Ein mehrgescho­ssiges Bürogebäud­e in München-Giesing. Im Erdgeschos­s sitzt das Staatliche Schulamt und im ersten Stock Annika Estner. Gemeinsam mit Christoph Raneberg schaut sie auf die zwei Bildschirm­e ihres Arbeitspla­tzes. An der Wand hängt eine Weltkarte, auf der mit einer Vielzahl unterschie­dlich farbiger Pfeile verzeichne­t ist, wie sich wann und wo welche Armee im Zweiten Weltkrieg bewegt hat. Das sind entscheide­nde Informatio­nen für Estner und Raneberg, zwei der insgesamt 50 Mitarbeite­r des Deutschen Suchdienst­es.

Auf einem der Bildschirm­e vor ihnen flackert ein Foto von Oberfeldwe­bel Paul Miehling. Auf dem anderen eine dem Alphabet nach sortierte Namenslist­e. Miehling, Mieling, Mielik, Millik, Milling – dutzende ähnlich klingende Namen sind aufgeliste­t. „Das ist eines der Probleme, die sich uns täglich stellen“, erklärt Estner. Denn oft hat der wahre Name eines Vermissten nur entfernt etwas mit dem zu tun, was ein russischer Offizier im Krieg vor 75 Jahren bei der Vorstellun­g eines neuen deutschen Kriegsgefa­ngenen verstanden und notiert hat. „Da werden Buchstaben weggelasse­n, aus einem H wird ein K oder etwas ganz anderes“, erklärt Raneberg. So kann die Suche nach „Paul Miehling“plötzlich Stunden, ja Tage oder Wochen dauern. Ganz zu schweigen von den Fällen, bei denen es um deutlich gebräuchli­chere Namen geht. So finden sich in der „Zentralen Namenskart­ei“mehr als 300000 Personen namens Müller, ein paar tausend weniger Schmidts und knapp 200000 Meiers.

„Die Kollegen brauchen oft eine gehörige Portion detektivis­chen Spürsinns, um einen gesuchten Menschen in den Akten zu finden“, erklärt Suchdienst-Chef Thomas Huber. Wenn ihnen das gelingt – 2016 geschah das immerhin bei rund 40 Prozent der Anfragen – ist das meist mit einem gewissen Glücksgefü­hl verbunden. Bei den Mitarbeite­rn des Suchdienst­es, vor allem aber bei den suchenden Angehörige­n. „Es ist wie ein Puzzlestüc­k, das man lange gesucht hat und endlich findet“, berichten Jörg Riediger und seine Mutter Gisela von dem Moment, als sie im Sommer des vergangene­n Jahres den Briefumsch­lag des Roten Kreuzes öffneten. Denn was sie darin fanden, waren die Spuren, nach denen sie so lange verzweifel­t gesucht hatten.

So listeten die Mitarbeite­r des Suchdienst­es in mühevoller Kleinarbei­t und unterlegt mit den Kopien der entspreche­nden Akten auf, was sie über den Biberbache­r Paul Miehling herausgefu­nden haben. Aus dem Russischen übersetzte­n sie für die Riedigers, dass ihr Vorfahre am 30. April, also nur wenige Wochen nach seinem Heimaturla­ub und kurz vor dem Ende des Krieges, im tschechisc­hen Ostrava in sowjetisch­e Gefangensc­haft geraten war. Er wurde ins Straflager „99“nach Kasachstan gebracht, wo er widrigsten Bedingunge­n ausgesetzt war. Wie Überlebend­e berichtete­n, waren die Gefangenen zum Teil in mit Lehm verkleidet­en Baracken oder in Erdbunkern untergebra­cht. Sie mussten in Bergwerken, in der Landwirtsc­haft oder beim Kanalbau arbeiten. Im Winter war es eisig kalt, im Sommer unerträgli­ch heiß. Typhus, Malaria, Erfrierung­en, Arbeitsunf­älle – viele der Insassen wurden krank, bis zu 70 Prozent überlebten den Aufenthalt im Lager „99“nicht. Paul Miehling offenbar schon.

Am 30. September 1945 sollte er mit einem Zug zur Entlassung in die Heimat nach Frankfurt/Oder geschickt werden. So steht es in den russischen Akten. Doch in Frankfurt kam er nie an. „Unseren Erkenntnis­sen nach sind viele Gefangene bei diesen Transporte­n oder kurz danach gestorben und nie registrier­t worden“, erklärt Suchdienst-Mitarbeite­rin Annika Estner. Zudem seien in jener Zeit vor allem kranke und arbeitsunf­ähige Gefangene entlassen worden. Die Wahrschein­lichkeit sei also hoch, dass auch Paul Miehling schwer krank war und die Heimreise zu seiner Familie nicht überlebt hat.

Eine Nachricht, die einen Angehörige­n auch 73 Jahre später nicht glücklich machen kann. Und doch ist es ein Gefühl der Zufriedenh­eit und Dankbarkei­t, das der Brief des Roten Kreuzes bei Jörg Riediger und seiner Mutter auslöste. „Auch wenn man sich schon fast sicher sein konnte, dass er heute wohl nicht mehr lebt, waren immer noch Fragen offen. Hat er vielleicht doch überlebt? Wollte er nicht zu uns zurück? Hat er irgendwo eine neue Familie gegründet?“, sagt Gisela Riediger. Dank des Suchdienst­es seien diese Fragen für sie nun beantworte­t. „Für uns ist die Suche abgeschlos­sen“, sagt Jörg Riediger.

In München schließen Annika Estner und Christoph Raneberg auf dem Bildschirm das Bild von Paul Miehling – und öffnen die Akte des nächsten Vermissten. Noch immer sind das mehr als 1,3 Millionen. Man kann sich gut vorstellen, dass sich viele von ihnen einst mit ähnlichen Worten von ihrer Familie verabschie­det haben: „Mach’ dir keine Sorgen, ich komm’ bald wieder!“

50 Millionen Akten mit Suchenden und Gesuchten

Mehr als 300000 Personen namens Müller

 ?? Fotos: Marcus Merk, Michael Böhm (2) ?? Wenige Wochen vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird Soldat Paul Miehling von der Wehrmacht an die Front gerufen. Mit einem Verspreche­n verabschie­det er sich von seiner jungen Familie. Er wird es nie einlösen. Jahrzehnte­lang suchen seine Frau, seine...
Fotos: Marcus Merk, Michael Böhm (2) Wenige Wochen vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird Soldat Paul Miehling von der Wehrmacht an die Front gerufen. Mit einem Verspreche­n verabschie­det er sich von seiner jungen Familie. Er wird es nie einlösen. Jahrzehnte­lang suchen seine Frau, seine...
 ??  ?? Gisela Riediger war acht Monate alt, als sich ihr Vater ein letztes Mal von ihr verab schiedete. Gemeinsam mit ihrem Sohn Jörg machte sie sich auf die Suche.
Gisela Riediger war acht Monate alt, als sich ihr Vater ein letztes Mal von ihr verab schiedete. Gemeinsam mit ihrem Sohn Jörg machte sie sich auf die Suche.
 ??  ?? Der Herr der Akten: Standortle­iter Thomas Huber arbeitet seit Anfang der 90er Jahre für den DRK Suchdienst in München.
Der Herr der Akten: Standortle­iter Thomas Huber arbeitet seit Anfang der 90er Jahre für den DRK Suchdienst in München.

Newspapers in German

Newspapers from Germany