Landsberger Tagblatt

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (70)

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Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.

© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

Wir starrten zu dem gestrandet­en Boot hinüber. Jetzt sah ich, dass schon überall die Farbe abplatzte und das Gebälk der kleinen Kajüte morsch war. Das Boot war einmal himmelblau gewesen; nun wirkte es unter dem Himmel beinahe weiß.

„Wie es wohl hierher geraten ist?“, fragte ich. Ich hatte die Stimme erhoben, um von den anderen verstanden zu werden, und mit einem Echo gerechnet, aber der Schall war überrasche­nd nahe – ich kam mir vor wie in einem Raum voller Teppiche.

Dann hörte ich Tommy hinter mir sagen: „Vielleicht sieht Hailsham jetzt so aus. Was meint ihr?“

„Wieso sollte Hailsham so aussehen?“Ruth klang ehrlich verblüfft. „Es wird doch kein Sumpf draus, bloß weil sie es geschlosse­n haben.“

„Nein, wohl nicht. So war das nicht gemeint. In meiner Vorstellun­g sehe ich Hailsham jetzt immer so ähnlich. Ist nicht logisch, ich weiß. Aber das hier kommt dem

Bild in meinem Kopf wirklich ziemlich nahe. Nur dass da natürlich kein Boot ist. Es wär gar nicht so schlecht, wenn es jetzt dort so ausschauen würde.“

„Komisch“, sagte Ruth. „Genau so was habe ich neulich morgens geträumt. In meinem Traum war ich in Zimmer 14. Es war mir auch im Traum klar, dass Hailsham geschlosse­n ist, und trotzdem stand ich dort in Zimmer 14 und schaute aus dem Fenster, und draußen war alles überschwem­mt. Es war wie ein riesiger See. Unter meinem Fenster trieb Müll vorbei, leere Getränkeka­rtons, alles mögliche Zeug. Aber es hatte gar nichts Beunruhige­ndes oder so. Es war nett und friedlich, genau wie hier. Ich wusste, dass mir keine Gefahr drohte, dass es nur so aussah, weil sie Hailsham geschlosse­n hatten.“

„Übrigens“, sagte Tommy, „war Meg B. eine Zeit lang im Kingsfield. Sie ist jetzt wieder fort, irgendwo im Norden zu ihrer dritten Spende. Seither hab ich nichts mehr von ihr gehört. Wisst ihr vielleicht irgendwas?“

Ich schüttelte den Kopf, und als Ruth nichts sagte, wandte ich mich zu ihr um. Zuerst dachte ich, sie betrachte noch das Boot, doch dann merkte ich, dass ihr Blick dem Kondensstr­eifen eines Flugzeugs in weiter Ferne folgte, der sich langsam über den Himmel aufwärts zog. Und schließlic­h sagte sie:

„Nun, ich habe was gehört. Und zwar über Chrissie. Sie soll während ihrer zweiten Spende abgeschlos­sen haben.“

„Das habe ich auch gehört“, fügte Tommy an. „Es muss stimmen. Genau dasselbe habe ich auch gehört. Eine Schande. Und schon bei der zweiten Spende. Bin ich froh, dass mir das nicht passiert ist.“

„Ich glaube, es passiert viel mehr, als sie uns verraten“, erwiderte Ruth. „Meine Betreuerin dort drüben. Sie weiß vermutlich, dass es stimmt. Aber sie sagt es nicht.“

„Dahinter steckt keine Verschwöru­ng“, sagte ich, wieder dem Boot zugewandt. „Solche Sachen geschehen manchmal. Es ist sehr traurig, was Chrissie passiert ist. Aber es ist eine Ausnahme. Heutzutage sind sie wirklich vorsichtig.“

„Ich wette, es passiert viel öfter, als sie uns sagen“, wiederholt­e Ruth. „Das ist einer der Gründe, warum sie uns zwischen den Spenden immer wieder woandershi­n schicken.“

„Einmal hab ich Rodney getroffen“, erwiderte ich. „Nicht lang, nachdem Chrissie abgeschlos­sen hatte. Es war in dieser Klinik in Nordwales. Es ging ihm ganz gut.“

„Trotzdem wette ich, dass er wegen Chrissie ziemlich am Boden war“, sagte Ruth. Dann wandte sie sich an Tommy: „Sie erzählen einem nicht mal die Hälfte, verstehst du?“

„Eigentlich“, sagte ich, „hat er es gar nicht so schwer genommen. Natürlich war er traurig. Aber es ging ihm nicht schlecht. Sie hatten sich ohnehin schon mehrere Jahre nicht mehr gesehen. Er meinte, Chrissie hätte es wohl nicht so viel ausgemacht. Und er muss es wohl wissen.“

„Woher sollte er das wissen?“, fragte Ruth. „Wie sollte er wissen, was Chrissie empfunden hat? Was sie gewollt hätte? Er war’s ja nicht, der da auf dem OP-Tisch lag und sich ans Leben klammerte. Woher will er das alles wissen!“

Der kurze Zornausbru­ch erinnerte schon eher an die alte Ruth, und ich drehte mich wieder zu ihr. Vielleicht war es nur das wütende Funkeln in ihren Augen, aber ich hatte das Gefühl, dass sie meinem Blick mit einer harten, finsteren Miene begegnete.

„Es kann nicht gut sein“, sagte Tommy. „Bei der zweiten Spende abzuschlie­ßen. Das kann nicht gut sein.“

„Ich glaube einfach nicht, dass Rodney es wirklich so gut aufgenomme­n hat“, sagte Ruth. „Du hast ja nur ein paar Minuten mit ihm gesprochen. Was willst du da schon erfahren!“

„Na ja“, sagte Tommy. „Wenn die beiden schon eine Weile getrennt waren, wie Kath sagt…“

„Das heißt doch überhaupt nichts“, fiel ihm Ruth ins Wort. „Im Gegenteil, in mancher Hinsicht macht es das Ganze nur umso schlimmer.“

„Ich habe viele in Rodneys Situation gesehen“, sagte ich. „Sie finden sich damit ab.“

„Woher willst du das wissen?“, sagte Ruth. „Wie kannst du das wissen? Du bist immer noch Betreuerin.“

„Ich bekomme einiges mit als Betreuerin. Schrecklic­h viel.“

„Sie kann es nicht wissen, oder, Tommy? Nicht, wie es wirklich ist.“

Einen Moment lang sahen wir beide Tommy an, der jedoch weiterhin auf das Boot starrte.

„In meinem Zentrum war so einer“, sagte er schließlic­h. „Der hat sich ständig aufgeregt, dass er’s ganz bestimmt nicht über die Zweite hinaus schaffen wird. Er sagte immer, er hätte es im Gefühl. Aber dann ist doch alles gut gegangen. Jetzt hat er die Dritte hinter sich, und alles scheint bestens zu sein.“Er beschirmte die Augen mit der Hand. „Ich war nicht besonders gut als Betreuer. Hab nicht mal Auto fahren gelernt. Ich glaube, das war der Grund, weshalb die Benachrich­tigung für die Erste so früh kam. Ich weiß schon – angeblich läuft das nicht so, aber ich bin sicher, dass es so war. Hat mich eigentlich nicht gestört. Ich bin ein ziemlich guter Spender, aber ich war ein lausiger Betreuer.“

Eine Weile schwiegen wir alle. Dann sagte Ruth, inzwischen ruhiger:

„Ich glaube, ich war eine ganz anständige Betreuerin. Aber fünf Jahre haben mir dann auch gereicht. Es war wie bei dir, Tommy. Als ich Spenderin wurde, war ich innerlich schon ziemlich bereit dazu. Es kam mir richtig vor. Schließlic­h sind wir ja dafür da, oder?“

Ich war mir nicht sicher, ob sie darauf eine Antwort erwartete. Sie hatte es nicht suggestiv gesagt, und es ist durchaus möglich, dass es einfach ein Spruch aus alter Gewohnheit war – die Spender reden ständig so miteinande­r. Als ich mich wieder zu Tommy umwandte, beschattet­e er noch immer seine Augen und betrachtet­e das Boot.

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