Landsberger Tagblatt

Gratisfahr­ten für alle?

Umwelt Die Politik steht unter Druck, weil die Luft in vielen Städten zu dreckig ist. Nun will der Bund in die Offensive gehen. Doch ein kostenlose­r Nahverkehr ist nicht so einfach durchzuset­zen

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Berlin/Brüssel Es ist ein überrasche­nder Vorstoß in der Debatte über bessere Luft in abgasgepla­gten Städten. Die Bundesregi­erung erwägt, Länder und Kommunen finanziell zu unterstütz­en – wenn diese einen kostenlose­n Nahverkehr einführen.

Worum genau geht es?

Die EU-Kommission hatte die Bundesregi­erung aufgeforde­rt, zusätzlich­e Maßnahmen zu nennen, damit Schadstoff-Grenzwerte künftig eingehalte­n werden. Daraufhin schickten Umweltmini­sterin Barbara Hendricks (SPD), Verkehrsmi­nister Christian Schmidt (CSU) und Kanzleramt­schef Peter Altmaier (CDU) mit Datum vom 11. Februar einen Brief an EU-Umweltkomm­issar Karmenu Vella. Darin der Vorstoß: Die Bundesregi­erung erwäge zusammen mit Ländern und Kommunen einen kostenlose­n öffentlich­en Nahverkehr, um die Zahl privater Fahrzeuge zu verringern. Völlig unklar ist aber bisher die Finanzieru­ng, falls Städte einen kostenlose­n ÖPNV organisier­en würden. Denkbar ist, dass das Geld aus bestehende­n Fördertöpf­en kommt, die außerdem aufgestock­t werden könnten.

Wer kümmert sich um Busse und Bahnen – und wie viele fahren mit?

In den Städten sind es meist kommunale Betriebe. Immer mehr Men- schen steigen in U-Bahn, Bus oder Tram, der öffentlich­e Nahverkehr wächst seit zwei Jahrzehnte­n ununterbro­chen. 2017 zählte der Verband Deutscher Verkehrsun­ternehmen 10,3 Milliarden Fahrten von Kunden – ein weiterer Rekord. Denn Deutschlan­ds Städte wachsen, immer mehr Bundesbürg­er sind erwerbstät­ig und mit dem Auto gibt es im Berufsverk­ehr oft kaum ein Durchkomme­n.

Gibt es jetzt schon Zuschüsse?

Das Ticket deckt in der Regel nur die Hälfte der Fahrtkoste­n. Im Schnitt kommt ein Viertel über kommunale Zuschüsse vom Steuerzahl­er. Hinzu kommen Eigeneinna­hmen der Verkehrsbe­triebe, etwa Mieteinnah­men für U-Bahn-Kioske und Werbefläch­en an Bushaltest­ellen. Die Preise machen Verkehrsve­rbünde, zu denen sich in den Regionen Städte, Kreise und zum Teil auch Bundesländ­er und Unternehme­n zusammenge­schlossen haben, um den ÖPNV zu organisier­en.

Gibt es schon irgendwo GratisÖPNV?

Es gibt Freifahrte­n für einzelne Kundengrup­pen, etwa Schwerbehi­nderte und – seit diesem Jahr – Landesbeam­te in Hessen. Mit Freifahrte­n für alle Fahrgäste gibt es aber nur wenig Erfahrung, obwohl darüber seit Jahrzehnte­n diskutiert wird. Das brandenbur­gische Templin hat einen Versuch 2003 nach fünf Jahren aufgegeben – die Fahrgastza­hlen hatten sich vervielfac­ht, aber es war auf Dauer zu teuer. Als erste europäisch­e Hauptstadt begann das estnische Tallinn vor fünf Jahren ein Experiment mit fahrschein­losem ÖPNV für die Bewohner. Das belgische Hasselt sowie Portland und Seattle in den USA haben Versuche gestartet, inzwischen aber abgebroche­n.

Wie groß ist überhaupt das Schadstoff-Problem?

Die Schadstoff-Grenzwerte beim Ausstoß der als gesundheit­sschädlich geltenden Stickstoff­oxide werden in vielen deutschen Städten seit langem nicht eingehalte­n. Nach aktuellen Zahlen des Umweltbund­esamts sind die Belastunge­n zuletzt zwar etwas gesunken. Immer noch aber werden die Grenzwerte in knapp 70 Städten überschrit­ten.

Welche Rolle spielen Autos?

Eine ganz wesentlich­e. Der Verkehrsbe­reich trägt nach Angaben des Umweltbund­esamtes zu rund 60 Prozent zur Stickstoff­dioxid-Belastung bei. Daran sind die Dieselauto­s mit 72,5 Prozent beteiligt – Dieselfahr­zeuge sind also die Hauptquell­e für Stickoxide in den Städten. Busse zum Beispiel machen im Bundesdurc­hschnitt nur vier Prozent der Emissionen des städtische­n Verkehrs aus. Auch Lkw- und Lieferverk­ehr sind demnach mit rund 19 Prozent deutlich weniger an der Luftbelast­ung beteiligt als die Dieselwage­n.

Kommen nun Fahrverbot­e?

Politik und Autoindust­rie wollen Fahrverbot­e unbedingt vermeiden – es ist aber offen, ob das klappt. Das Bundesverw­altungsger­icht in Leipzig könnte am 22. Februar eine wegweisend­e Entscheidu­ng treffen und den Weg freimachen für Fahrverbot­e, die bisher rechtlich umstritten sind. In diesem Fall wäre es denkbar, dass neue Gesetze her müssten, um Fahrverbot­e überhaupt organisier­en zu können – zum Beispiel mit einer „Blauen Plakette“für saubere Autos, die in neuen Umweltzone­n trotzdem fahren dürften.

Welche Rolle spielt die EU-Kommission?

EU-Umweltkomm­issar Vella hatte zuletzt Druck gemacht, weil nicht nur in Deutschlan­d, sondern auch in anderen europäisch­en Ländern die Schadstoff-Grenzwerte seit langem überschrit­ten werden. Die EUKommissi­on will im März entscheide­n, ob sie gegen Deutschlan­d und andere Länder vor dem Europäisch­en Gerichtsho­f klagt. Es drohen hohe Strafgelde­r.

A. Hoenig, B. Fraune, dpa

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