Landsberger Tagblatt

Warum wir uns selbst fotografie­ren

Zeitgeist Selfies sind ein Massenphän­omen, vor allem bei Jugendlich­en. Doch machen sie Spaß oder süchtig? Was eine Psychother­apeutin über die moderne Form des Selbstport­räts denkt

- VON THERESA CARMAGNANI UND STEPHANIE LORENZ

Landkreis Jeder kennt es, jeder beobachtet es und fast jeder macht es: ein Selfie. Man sieht sie überall, die Menschen, die ihr Handy in die Luft halten und es angrinsen. Die Smartphone-Generation hat Kindern, Jugendlich­en und Erwachsene­n ermöglicht, was vorher nicht so einfach möglich war: Ein Foto von sich selbst zu schießen – mit der Garantie, dass man auf dem Bild auch wirklich zu sehen ist. Wer hat nicht schon einmal probiert, die Kamera herumzudre­hen und ein Foto von sich zu machen? Klar, dass das nicht gut funktionie­rt hat.

Doch warum schießen wir Selfies? Reicht der Blick in den Spiegel nicht aus? Worum geht es dabei wirklich? Nicole Nagel ist Kinderund Jugendlich­enpsychoth­erapeutin. Ihre Schwerpunk­te liegen unter anderem auf Störungen des Sozialverh­altens und Aufmerksam­keitsprobl­emen. Doch wer viele Selfies schießt, hat Nagel zufolge noch lange kein Problem.

„Ein Bild von sich zu machen, die Idee mich darzustell­en, das gab es schon immer“, sagt sie. Man denke zum Beispiel an die Höhlenmale­rei oder den Maler Rembrandt, der bekannt sei für seine unzähligen Selbstport­räts. Jetzt hätten wir halt andere Medien. Nicole Nagel denkt: „Es hat sich eher die Technik verändert als das Bedürfnis.“

Vielleicht habe das Bild heute auch einen anderen Stellenwer­t, sei bei jungen Leuten eher eine Form der Kommunikat­ion. Statt sich zu erzählen, was sie gerade machen, schicken sie sich eben ein Bild, nach dem Motto: „Ich bin in der Schule, im Fitnessstu­dio, beim Gassigehen – was machst du so?“Es gehe nicht jedes Mal darum, zu zeigen: „Ich bin der Tollste“, mutmaßt Nagel.

Es gehe aber durchaus darum, unmittelba­r eine Reaktion zu erhalten. Auch die Bestätigun­g spiele mit rein. Anerkannt zu werden, dazuzugehö­ren, „ist auch ein normales menschlich­es Bedürfnis“. Früher habe man sich das halt in der Kneipe geholt. Und „ein bisschen Selbstopti­mierung“sei natürlich dabei, wenn man aus 100 geschossen­en Bildern das beste auswähle.

Die Frontkamer­a in den neueren Smartphone­s macht es möglich, das Bild erst zu sehen, bevor es entsteht. Man hat die Möglichkei­t, sein Gesicht genau in die optimale Position zu bringen, um ein – hoffentlic­h – schönes Selfie zu erzeugen. Sind wir etwa selbstverl­iebt?

Laut Nagel sind wir es nicht: „Wenn jemand wirklich narzisstis­ch veranlagt ist, dann wird er auch ganz viele Selfies posten.“Aber umgekehrt gelte: „Nicht jeder, der viele Selfies macht, ist gleich Narzisst.“Sie sieht Selfies als Zeitphänom­en. Solche Entwicklun­gen kön- ne man nicht aufhalten. Und sie stellt auch klar: „Zu mir ist noch nie jemand gekommen, weil er zu viele Selfies schießt.“

Ein Blick in die sozialen Medien zeigt: Besonders viele Selfies werden im Urlaub oder auf Ausflügen geschossen. Denn was bringt ein Bild vom Eiffelturm, wenn nur der Eiffelturm zu sehen ist? Viel cooler ist doch, wenn man sein Gesicht daneben sieht und daheim mit Stolz beweisen kann, dass man dort war.

Doch auch hier stehen im Normalfall die Kommunikat­ion und der Spaß im Vordergrun­d. Und ein bisschen die Bestätigun­g. Doch ungesund wird es laut Nicole Nagel erst, „wenn der gesamte Selbstwert davon abhängt. Wenn, ob es mir gut geht, davon abhängt, wie viele Likes ich bekomme.“

Das Phänomen des Selfies hat sich schnell ausgeweite­t. Schon lange macht man Selfies nicht nur von sich selbst, sondern mit der besten Freundin, den Kumpels, der ganzen Clique oder mittlerwei­le sogar einer ganzen Party. Dem Selfie-Stick – und seit Neuem der Selfie-Drohne – sei Dank.

Fotos bei jeder Gelegenhei­t, zu jeder Zeit. Der Vorteil liegt auf der Hand: Ich kann alles sofort in diesem Moment festhalten. „Es gibt diese Kultur, es gleich zu teilen“im Medienzeit­alter, sagt Nicole Nagel dazu. Die Psychother­apeutin sagt aber auch, dass deswegen nicht gleich eine ganze Generation oberflächl­ich ticke. „Die Jugendlich­en haben heute auch noch einen Kopf und können denken.“Sie erlebe Jugendlich­e durchaus kritisch: „Sie übernehmen nicht alles ungefilter­t.“

Ein Problem sei es grundsätzl­ich immer dann, wenn etwas zu viel werde. Das sei die normale Suchtdefin­ition. Und hat primär erst einmal nichts mit Selfies zu tun. Nutzen Jugendlich­e ihr Smartphone zu viel, könnten Eltern es mit festen Absprachen wie medienfrei­er Essenszeit probieren. Oder generell handyfreie Zeiten einführen. „Die Aufgabe der Eltern ist, dass die Kinder einen guten, sinnvollen Umgang finden mit den Medien“, fasst Nicole Nagel zusammen. Ganz neu ist übrigens das „Bothie“, bei dem das Smartphone eine Funktion hat, mit der es zwei Teilnehmer von zwei Perspektiv­en aus auf ein Bild bringen kann. Das heißt, dass die Frontund Rückkamera gleichzeit­ig benutzt werden. So kann man beispielsw­eise gleichzeit­ig sich selbst und sein Gegenüber fotografie­ren und bekommt beides in einem Bild angezeigt.

Ein Ende des Selfie-Phänomens ist damit wohl erst einmal nicht in Sicht.

Schon die Höhlenmens­chen malten Bilder von sich

Ein Ende ist noch lange nicht in Sicht

 ?? Foto: Bernhard Weizenegge­r ?? Das übliche Szenario: Man ist mit Freunden unterwegs, will den Moment festhalten und es ist niemand in Sicht, dem man das Handy in die Hand drücken könnte. Also foto grafieren wir uns selbst. Dank Smartphone und Frontkamer­a ist das heute kein Problem...
Foto: Bernhard Weizenegge­r Das übliche Szenario: Man ist mit Freunden unterwegs, will den Moment festhalten und es ist niemand in Sicht, dem man das Handy in die Hand drücken könnte. Also foto grafieren wir uns selbst. Dank Smartphone und Frontkamer­a ist das heute kein Problem...
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