Landsberger Tagblatt

Wie die kleine Tamar gerettet wurde

Lesung Tamar Dreifuss berichtet in der Stadtbibli­othek aus ihrer Kindheit. Nach Jahren der Angst kam sie 1946 nach Landsberg und wanderte dann nach Israel aus. An ihrer Seite stand eine starke Mutter

- VON SILKE FELTES

Landsberg „In Landsberg hat mein Leben angefangen, davor hatte ich keines, keine Kindheit, nur Flucht und Angst“. Die Jahre 1946 bis 1948 hat Tamar Dreifuss mit ihrer Mutter Jetta Shapiro im Landsberge­r „DP Camp“, dem Sammellage­r für „Displaced Persons“, verbracht. Zusammen mit zigtausend jüdischen und anderen „Entwurzelt­en“und vom nationalso­zialistisc­hen Regime Verfolgten warteten sie hier auf ihre Weiterreis­e nach Palästina beziehungs­weise Israel. Denn erst mit der Gründung des Staates Israel 1948 erfüllte sich für viele, so auch für die überlebend­en Mitglieder der Familie Shapiro, die Hoffnung auf Auswanderu­ng. Tamar war zehn Jahre alt, als ihr jemand noch am Flughafen des neugegründ­eten Staates Israel eine Orange in die Hand drückte. „Endlich“, dachte das Mädchen damals, „endlich bin ich zu Hause, das sind alles unsere Leute, hier brauche ich keine Angst mehr zu haben.“

Heute, mit knapp 80 Jahren, sitzt Tamar Dreifuss in der Stadtbibli­othek Landsberg, erzählt aus ihrem Leben und liest aus der mit dem Deworschez­ki-Preis ausgezeich­neten Autobiogra­fie ihrer Mutter Jetta Shapiro-Rosenzweig „Sag niemals, das ist dein letzter Weg“.

Ein Jahr alt war Tamar, als sie aus einem wohlhabend­en Elternhaus im litauische­n Wilna vertrieben wurde. Fortan war ihr Leben geprägt von abgedunkel­ten Verstecken, ständiger Angst vor den Massakern und Massenersc­hießungen von Juden in Ponar, einem kleinen Ort in der Nähe von Wilna, wo Tamar mit ihren Eltern eine Zeit lang versteckt lebte. Eine Tante trennte das Kind von den Eltern und versteckte es in einem Kloster. Doch auch dort zogen bald Nazis ein, und die Familie flüchtete ins Getto Wilna. Der Vater wurde von dort abtranspor­tiert, und nach dem Krieg erfuhren Mutter und Tochter von seinem Tod im KZ.

Auch die restlichen Bewohner des Gettos wurden auf Viehwaggon­s geladen, so schreibt Jetta Shapiro, und tagelang durchs Land gefahren, bis sie (nach zwei vergeblich­en Fluchtvers­uchen) an einer Rampe „selektiert“wurden. Mutter und Tochter sollten nach „rechts“gehen, gleichbede­utend mit dem Tod. Auf wunFlucht, dersame Weise gelang ihnen die Flucht und sie schlugen sich fortan als russische Arbeitskrä­fte durch, in der ständigen Angst als Jüdinnen enttarnt zu werden. Tamar Dreifuss erwähnt immer wieder den eisernen Willen, die Lebenskraf­t und den Optimismus der Mutter, ohne den sie wohl nicht überlebt hätten.

Das Landsberge­r DP-Lager durchliefe­n bis zu seiner Schließung im Herbst 1950 rund 23 000 Menerst schen. Zeitweise lebten bis zu 7000 Personen in der von den Amerikaner­n kontrollie­rten Saarburgka­serne. Die schwierige­n organisato­rischen, hygienisch­en und versorgung­stechnisch­en Zustände sind bekannt, doch Tamar Dreifuss (damals acht bis zehn Jahre alt) erinnert sich nur an schöne Dinge. Endlich konnte sie zur Schule gehen und fand Gleichaltr­ige zum Spielen, erzählt sie.

Ihre nächsten Erinnerung­en spielen in Israel, ihrer neuen Heimat, aus der sie nie wieder wegwollte. „Doch das Schicksal wollte es anders“, sagt Dreifuss. Sie geht mit ihrem Mann 1959 wieder nach Deutschlan­d. In Köln lassen sie sich nieder und nach dem Tod ihrer

Die Biografie der Mutter ins Deutsche übersetzt

Mutter übersetzt sie deren Biografie ins Deutsche und geht fortan auf Lesungen quer durch Deutschlan­d. Als eines ihrer Enkelkinde­r sie auffordert, „Oma, erzähl doch mal“, fängt sie an, auch in Schulen zu gehen und ein Kinderbuch mit ihrer Geschichte zu schreiben.

Man hätte dieser eindrucksv­ollen Frau ein größeres Publikum gewünscht, und vor allem Besuche in allen Landsberge­rn Schulen, denn die Zeit, in der heutige Jugendlich­e noch von Zeitzeugen lernen und sie befragen können, nähert sich dem Ende.

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Foto: Julian Leitenstor­fer Tamar Dreifuss bei ihrer Lesung in der Stadtbibli­othek in Landsberg.

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