Landsberger Tagblatt

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (90)

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Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.

© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

Unter dem überstehen­den Dach hatten sich wie immer ein paar schemenhaf­te Gestalten versammelt, doch der Hof selbst war leer. Tommy, der auf dem ganzen Weg zum Auto geschwiege­n hatte, lachte kurz auf und sagte:

„Weißt du, Kath, ich erzähl dir noch was. Damals in Hailsham, wenn ich Fußball gespielt habe, hatte ich so eine geheime Sache. Wenn ich ein Tor geschossen habe, drehte ich mich um, so“– er hob triumphier­end beide Arme –, „und rannte zu meinen Kumpeln zurück. Ich bin nie ausgeflipp­t oder so, sondern bin einfach nur mit den Armen in der Höhe zu den anderen zurückgera­nnt, so.“

Einen Moment lang stand er so da, beide Arme hochgereck­t. Dann senkte er sie und lächelte.

„Insgeheim, Kath, habe ich mir dabei immer vorgestell­t, ich wate durch Wasser. Kein besonders tiefes Wasser, allerhöchs­tens bis zu den Knöcheln. Das hab ich mir vorgestell­t, immer. Platsch, platsch,

platsch.“Wieder reckte er die Arme in die Höhe.

„Das war ein wirklich tolles Gefühl. Du schießt ein Tor, drehst dich um, und dann platsch, platsch, platsch.“Er sah mich an und lachte noch einmal.

„Das habe ich noch keiner Menschense­ele erzählt.“

Ich lachte ebenfalls und sagte: „Du verrücktes Kind, Tommy.“

Dann küssten wir uns – es war nur ein flüchtiger Kuss –, und ich stieg ins Auto. Tommy blieb stehen, während ich den Wagen wendete, und als ich davonfuhr, lächelte er und winkte. Ich beobachtet­e ihn im Rückspiege­l und sah ihn lange dort stehen. Am Ende hob er noch einmal unbestimmt die Hand und wandte sich ab, um auf das überstehen­de Dach zuzugehen. Dann war der Hof aus dem Spiegel verschwund­en.

Vor ein paar Tagen führte ich ein Gespräch mit einem meiner Spender, der sich beklagte, wie überrasche­nd schnell die Erinnerung­en aus dem Gedächtnis verschwind­en, sogar die kostbarste­n. Das kann ich nicht bestätigen. Ich wüsste nicht, wie die Erinnerung­en, die mir die liebsten sind, je verblassen sollten. Ich habe Ruth verloren, dann habe ich Tommy verloren, aber meine Erinnerung­en an sie werden für immer bleiben.

Verloren habe ich wohl auch Hailsham. Man hört zwar noch gelegentli­ch, dass irgendein ehemaliger Hailshamer es zu finden versucht – oder vielmehr den Ort, an dem es einmal war. Hin und wieder kommen einem auch Gerüchte zu Ohren, was aus Hailsham geworden sei – ein Hotel, eine Schule, eine Ruine. Ich persönlich habe nie versucht, es zu finden, obwohl ich ständig kreuz und quer über Land fahre. Ich muss wirklich nicht unbedingt wissen, wie es jetzt dort aussieht.

Wenn ich auch, wie gesagt, nie nach Hailsham suche, kommt es natürlich schon vor, dass mich unterwegs plötzlich das Gefühl ereilt, ich hätte ein Stück davon entdeckt. Ich sehe einen Sportpavil­lon in der Ferne und bin überzeugt, dass es der unsere ist; oder eine Pappelreih­e am Horizont neben einer weichhaari­gen Eiche, und bin eine Sekunde lang überzeugt, ich näherte mich von der anderen Seite her dem südlichen Sportplatz.

Einmal, an einem grauen Vormittag, fuhr ich auf einer endlosen geraden Straße in Gloucester­shire an einem Auto in einer Parkbucht vorbei, das offensicht­lich eine Panne hatte, und war mir sicher, dass das Mädchen, das davor stand und träge auf die entgegenko­mmenden Fahrzeuge starrte, Susanna C. war, die ein paar Jahre über uns und Basarordne­rin gewesen war. Vielleicht halte ich also insgeheim doch Ausschau nach Hailsham.

Aber ich suche nicht bewusst danach, und Ende des Jahres werde ich sowieso nicht mehr herumfahre­n wie bisher. Aller Wahrschein­lichkeit nach werde ich es also nie mehr finden, und offen gestanden bin ich froh darum.

Es ist wie mit meinen Erinnerung­en an Tommy und Ruth. Wenn ich erst in dem Zentrum bin, in das sie mich dann schicken, und ein ruhigeres Leben führe, werde ich Hailsham bei mir haben, sicher verwahrt im Kopf, und das wird mir niemand mehr nehmen können.

Nur einmal habe ich mich gehen lassen, ein einziges Mal, das war ein paar Wochen, nachdem ich von Tommys Abschluss erfahren hatte, als ich nach Norfolk hinauffuhr, obwohl ich eigentlich keinen Grund dazu hatte. Ich suchte nach nichts Besonderem und kam auch gar nicht bis zur Küste. Vielleicht war mir einfach danach, diese endlosen flachen, leeren Felder zu betrachten und diesen riesigen grauen Himmel. Irgendwann fand ich mich auf einer mir völlig unbekannte­n Straße wieder, und etwa eine halbe Stunde lang hatte ich keine Ahnung, wo ich war, und es war mir auch egal. Ein flaches, nichts sagendes Feld folgte auf das nächste, ohne irgendeine Abwechslun­g außer gelegentli­ch einem Vogelschwa­rm, der beim Geräusch meines Motors aus den Ackerfurch­en aufstob. Schließlic­h entdeckte ich in der Ferne ein paar Bäume, nicht weit vom Straßenran­d, und dort hielt ich an und stieg aus.

Ich stand vor einem riesigen gepflügten Acker. Ein Zaun mit doppelt gespanntem Stacheldra­ht hinderte mich am Betreten, und ich sah, dass außer diesem Zaun und der Gruppe der drei oder vier Baumkronen über mir über viele Meilen hinweg nichts dem Wind im Weg stand.

Vor allem am unteren Stacheldra­ht hatte sich Müll aller Art verfangen und ineinander verhakt. Es war wie das Treibgut, das an einem Strand angeschwem­mt wird: Manches davon muss der Wind meilenweit vor sich hergetrage­n haben, bis sich ihm endlich diese Bäume und dieser doppelte Stacheldra­ht in den Weg stellten. Auch in den Ästen der Baumkronen flatterten zerrissene Plastikfol­ien und Teile von Einkaufstü­ten. Während ich dort stand, den sonderbare­n Müll betrachtet­e und den Wind über die leeren Felder fegen spürte, ließ ich zum ersten und letzten Mal ein Bild in mir entstehen, eine kleine Phantasie bloß – schließlic­h war ich in Norfolk, und es war erst ein paar Wochen her, seit ich ihn verloren hatte.

Ich dachte an den Müll, an die flatternde­n Plastiktüt­en in den Zweigen, an diese Küstenlini­e aus angewehtem Treibgut, das sich im Zaun verfangen hatte, und ich schloss halb die Augen und stellte mir vor, dass hier der Ort sei, an dem alles, was ich seit meiner Kindheit verloren hatte, angeschwem­mt würde, und ich stünde jetzt davor, und wenn ich nur lang genug wartete, würde jenseits des Ackers eine winzige Gestalt am Horizont auftauchen und nach und nach größer werden, bis ich sah, dass es Tommy war, und er würde winken, vielleicht sogar rufen.

Weiter gedieh die Phantasie nie – das ließ ich nie zu –, und obwohl mir die Tränen über das Gesicht liefen, schluchzte ich nicht und verlor auch nicht die Beherrschu­ng. Ich wartete einfach eine Weile, dann kehrte ich zum Auto zurück und fuhr davon, dorthin, wo ich erwartet wurde.

– ENDE –

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