Die Schwester der Freude ist die Lust
Kino Zum Leben gehört auch Sexualität. Roland Rebers neuer Film „Der Geschmack von Leben“spart dieses Thema nicht aus, ganz im Gegenteil
Kaufering Winterliches Schmuddelwetter draußen, und drinnen womöglich auch noch ein Schmuddelfilm? Manch einen hatten der Blick aus dem Fenster und die eine oder andere vorab geäußerte Kritikermeinung wohl davon abgehalten, sich auf den Weg in den Kauferinger Filmpalast zu machen. Und so fand dort am Freitagabend die Vorstellung der neuesten wtp-Produktion in einem etwa zur Hälfte besetzten Kinosaal statt – demselben übrigens, in dem die Schlussszene des vorgestellten Films gedreht worden war. Station gemacht auf ihrer Promotion-Tour quer durch ganz Deutschland hatten dort mit „Der Geschmack von Leben“die beiden Produzentinnen Marina Anna Eich und Patricia Koch.
Als Festivalbeitrag zu den Hofer Filmtagen 2017 eingeladen und dort hochgelobt, treffe der freizügige Film der im Landkreis ansässigen Crew rund um Drehbuchautor und Regisseur Roland Reber dennoch „sicher nicht jedermanns Geschmack“, kommentierte Marina Anna Eich das Besucherinteresse am eigenproduzierten „No-BudgetFilm“. Aber das sei hinzunehmen als freie Entscheidung jedes Einzelnen. Genau darum gehe es ja auch im Film: in sich hineinzuhören und auszuleben, was man dort vorfinde – frei von gesellschaftlichen, moralischen oder religiösen Zwängen.
Solchen ist die Spermafetischistin Nikki (Antje Nikola Mönning) offenbar nicht unterworfen. Sie kostet den besonderen „Geschmack von Leben“aus, wann und wo immer sich die Gelegenheit ergibt. Auf den Fahrten zu ihren Interviewpartnern oder zwischendurch „vernascht“sie das eine oder andere Objekt ihrer Begierde, immer natürlich im guten Einvernehmen mit ihrem jeweiligen Gegenüber. Lebensfreude wird in dem ab 18 Jahren freigegebenen Film zu unverstellter Lebens-Lust.
Mit jedem Interview öffnet der nicht narrative und auch nicht alles erklärende Film eine neue Facette des Themas „Liebe Lust Leidenschaft“. Da werden religiös motivierte Prüderie in der Reaktion einer Mutter auf die Doktorspiele ihrer Tochter verhandelt, der Männerverschleiß einer Masochistin, die Verunsicherung der Geschlechter im sich immer weiter annähernden Rollenverständnis, aber auch die Traurigkeit einer alten Frau, deren Verführungskünste nicht mehr die frühere Wirkung erzielen und die von ihrem Mann schroff zurückgewiesen wird. Jeder betrachte den Film vor dem Hintergrund seiner persönlichen Erfahrungen, wies Patricia Koch auf dessen Spiegelfunktion hin, und „jede Szene triggert so auch bei jedem etwas anderes“.
Mit Kamera und am Selfie-Stick vorgehaltenem Smartphone und der ihr eigenen Leichtigkeit wandert Nikki durch die Begegnungen mit unterschiedlichsten Menschen. Und zieht sich dabei manchen Schuh erst
Nur so lange, bis der Schuh zu drücken beginnt
gar nicht oder nur eben so lange an, bis er zu drücken beginnt. „Diese positive Grundhaltung verbindet mich mit ihr“, sagt Antje Nikola Mönning über ihre Filmfigur, für die sie das Drehbuch selbst geschrieben hat. Oft seien ja die eigenen negativen Gedanken viel zerstörerischer als die Situation, die sie ausgelöst habe.
Ein bisschen Roadmovie, ein bisschen Episodenfilm – Rebers „Dramödie“legt sich da nicht fest, ist lieber immer gerade das, was der jeweilige Moment filmisch erfordert. Als Bindeglied über allem schwebt, kauert und verschwindet zuletzt aus einer menschenleeren Einkaufspassage das „Heideröslein“ (Mira Gittner). In der Gestalt eines Engels und der Funktion eines Nummerngirls musiziert und rezitiert das „Röselein“eingestreut zwischen einzelne Filmszenen verseund strophenweise das von Franz Schubert vertonte Goethe-Gedicht.
Vier Monate, erzählte Produzentin Marina Anna Eich, habe es von der Idee bis zur Fertigstellung des mittlerweile neunten Reber-Films gedauert. Auf das Ergebnis seien alle stolz. Lebensfreude komme ohne ihre Schwester, die Lust, nicht aus. Das sah wohl auch das Publikum so. Es gab langen Applaus für einen unkonventionellen, teils provokanten und niemals herabwürdigenden „Geschmack von Leben“.